Toechter Aus Shanghai
springen und schlängeln sich von Geschäft zu Geschäft. Alle tragen leuchtende Farben, als hätte sich ein großer Regenbogen über die Erde gelegt. Am Nachmittag kommen noch mehr Leute. Immer wenn ich aus dem Fenster sehe, wird eine Rikscha vorbeigezogen. Am Abend wirken die mexikanischen Fahrer ziemlich erschöpft.
Während des Abendessens ist das Golden Dragon bis auf den letzten Platz besetzt, und vor der Tür warten rund zwei Dutzend Leute auf einen Tisch. Gegen halb acht kommt mein Schwiegervater herein und bahnt sich einen Weg durch die Gäste.
»Ich brauche Sam«, sagt er.
Ich sehe mich suchend um und erspähe Sam an einem Achtertisch, den er gerade deckt. Der Alte Herr Louie folgt meinem Blick, marschiert quer durch den Raum und spricht mit Sam. Ich verstehe nicht, was er sagt, aber Sam schüttelt verneinend den Kopf. Der Alte Herr Louie fügt etwas hinzu, doch Sam schüttelt wieder den Kopf. Bei der dritten Weigerung packt mein Schwiegervater Sam am Hemd. Sam schiebt die Hand beiseite. Unsere Gäste verfolgen das Ganze.
Der Alte Herr erhebt die Stimme und spuckt die Worte im Sze-Yup-Dialekt aus, als wären sie Schleim. »Du hast mir zu gehorchen!«
»Ich habe doch gesagt, dass ich das nicht mache.«
» Toh gee! Chok gin! «
Ich arbeite jetzt schon seit Monaten Seite an Seite mit Sam und weiß, dass er weder faul noch ein Hohlkopf ist. Der Alte Herr Louie zerrt seinen Sohn quer durch den Raum, stößt dabei gegen die Tische und rempelt die bei der Tür wartenden Gäste an. Ich folge den beiden nach draußen, wo mein Schwiegervater Sam zu Boden stößt.
»Wenn ich dir etwas befehle, hast du zu gehorchen! Unsere anderen Fahrer sind müde, und du weißt schließlich, wie das geht.«
»Nein.«
»Du bist mein Sohn und tust, was ich sage«, beharrt mein Schwiegervater. Seine Gesichtszüge drohen zu entgleisen, dann ist der Augenblick der Schwäche vorbei, und er verhärtet sich wieder. Als er weiterspricht, klingt seine Stimme wie knirschende Steine. »Ich habe dir alles versprochen.«
Hier handelt es sich nicht um eine der netten Aufführungen
mit Tanz und Gesang, wie sie woanders in China City gerade als Teil der Feierlichkeiten dargeboten werden. Die Touristen verstehen nicht, worum es geht. Trotzdem ist es ein spannendes, unterhaltsames Spektakel. Als mein Schwiegervater anfängt, Sam mit Tritten durch die Gasse zu jagen, laufe ich ihnen zusammen mit den anderen nach. Sam wehrt sich nicht und schreit nicht. Er nimmt es einfach hin. Was ist das nur für ein Mann!
Als wir bei dem Rikschastand im Hof der vier Jahreszeiten ankommen, blickt der Alte Herr Louie auf Sam hinab und sagt: »Du bist ein Rikschafahrer und ein Ochse. Deshalb habe ich dich hierhergebracht. Jetzt tu deine Arbeit!«
Furcht und Scham lassen Sams Gesicht erbleichen. Langsam steht er auf. Er ist größer als sein Vater. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass dem Alten Herrn das genauso unangenehm ist, wie Baba sich damals an meiner Größe störte. Sam geht einen Schritt auf seinen Vater zu, blickt auf ihn hinab und sagt mit bebender Stimme: »Ich ziehe keine Rikscha. Jetzt nicht und überhaupt niemals.«
Dann werden sich beide Männer offenbar plötzlich der Stille um sie herum bewusst. Mein Schwiegervater streicht seine Mandarinrobe glatt. Sam blickt sich verlegen um. Als er mich entdeckt, krümmt sich sein ganzer Körper zusammen. Dann rennt er los, zwischen den gaffenden Touristen und unseren neugierigen Nachbarn hindurch. Ich laufe ihm hinterher.
Ich finde ihn in unserem fensterlosen Zimmer in der Wohnung. Er hat die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht ist rot angelaufen, so wütend und gekränkt ist er, aber er drückt die Schultern nach hinten, steht aufrecht da und sagt mit trotziger Stimme: »Ich habe mich so lange vor dir geschämt, doch jetzt weißt du es«, sagt er. »Du hast einen Rikschafahrer geheiratet.«
Im Herzen glaube ich ihm, nur mein Kopf protestiert. »Aber du bist der vierte Sohn...«
»Bloß ein Papiersohn. In China fragen immer alle: › Kuei hsing? ‹ - Wie heißt du? -, doch eigentlich bedeutet das ›Wie lautet
dein wertvoller Familienname?‹ Louie ist nur ein chi ming - ein Papiername. Eigentlich heiße ich Wong. Ich wurde im Dorf Low Tin geboren, nicht weit von deinem Heimatdorf in den Vier Bezirken. Mein Vater war Bauer.«
Ich setze mich auf die Bettkante. In meinem Kopf dreht sich alles: ein Rikschafahrer und Papiersohn. Dadurch werde ich zu einer Papierfrau, also sind wir beide illegal
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