Toechter der Dunkelheit
sein!“
Kythara lehrte sie in Mathematik, Schrift und Geschichte. Außerdem durften sie unter ihrer Anleitung einfache magische Erdzauber wirken, wie das Heilen kleiner Wunden, oder den Wachstum einer Pflanze beschleunigen. Aber auch Weben, Sticken und höfische Tänze mussten sie meistern können, falls sie einmal an dem königlichen Hof von Roen Orm oder im Schloss eines Provinzfürsten zu Gast sein wollten – kurzum, der Tag besaß nicht genug Stunden für all das, was sie zu erlernen hatten. Körperliche und geistige Anstrengungen wechselten einander ab, es gab kaum freie Zeit, in denen die Mädchen müßig sein durften.
Göttin, ich muss wach bleiben! Erschrocken fuhr Inani hoch, für einen Augenblick völlig orientierungslos. Sie war eingeschlafen, nach dem Stand des Mondes zu urteilen für mindestens eine halbe Stunde. Sofort spürte sie die Nähe einer fremden Kreatur. Freund oder Feind? Ihr Vertrauter vielleicht? Inani versuchte, die Dunkelheit der Schatten zu durchdringen. Waren dort verstohlene Bewegungen?
Ob es doch kein Schauermärchen war, Arinas Geschwätz von Junghexen, die auf ihren Vertrauten warteten und dabei von Saduj gefressen wurden?
Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, ihre Augen durchsuchten die Finsternis der Lichtung. Das Gesicht der Göttin verbarg sich hinter Wolken, während Inani langsam vom Felsen herabglitt. Ein Fauchen, ein knackender Zweig verriet die
Richtung, in der sie suchen musste. Zu groß für eine Wildkatze … Was ist das?
Inani war sicher, dass dort im Schatten eine Großkatze lauerte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Dann müsste es mein Seelengefährte sein. Warum kommt er nicht zu mir, statt mir aufzulauern? Sie hatte nicht gewagt zuzugeben, dass sie zwar häufig von Tieren träumte, aber keines davon je als vertraut empfunden hatte. Möglicherweise gab es für sie keinen Gefährten?
Inani atmete tief durch, versuchte, die Angst zu beherrschen und ihre Seele weit zu öffnen.
Bist du mein Freund?, dachte sie so intensiv wie möglich. Ein großer Schatten näherte sich, lautlos und geschmeidig. Fasziniert und gleichzeitig von eiskalter Angst geschüttelt wollte Inani sich der Raubkatze nähern, die nun auf der Mitte der Lichtung stand, als sie plötzlich eine weitere Präsenz spürte. Irgendwo hinter ihr lauerte noch eine Kreatur! Die Raubkatze grollte leise, offenbar hatte sie ebenfalls Witterung
aufgenommen. Mit wild klopfendem Herzen stand Inani still. Sie konnte nicht mehr denken, zitterte am ganzen Körper. Schwindel erfasste sie, überrollte ihr Bewusstsein. Das letzte, was sie wahrnahm, bevor sie in gestaltloser Schwärze ertrank, war eine Berührung tief in ihrem Inneren. Fremde Gedankenbilder, zögerliches Tasten; fauchendes Grollen und scharfkrallige Tatzen auf ihrem Körper. Dann stürzte sie in Dunkelheit, überwältigt von etwas, das sie nicht benennen konnte.
~*~
„Alanée, ich spüre, ich muss zu ihr!“ Shora wiederholte diesen Satz trotzig, nun schon zum dritten Mal, und schüttelte grob die Hände der Freundin ab, die sie zurückzuhalten versuchte. Sie hatte ihre Hütte bereits verlassen, die sie gemeinsam mit Inani bewohnte. Um sie herum versammelten sich neugierige Hexen, die von dem Lärm der beiden streitenden Frauen angelockt wurden.
„Es ist verboten, du darfst dich nicht einmischen!“, rief nun auch Kythara streng.
„Ich will mich nicht einmischen, aber Inani ruft nach mir!“
„Wenn sie nicht ihren Seelengefährten, sondern einen Feind gefunden hat, ist sie bereits verloren, sie ist ohne Waffen dort
draußen im Wald, Shora. Nichts und niemand darf die Bindung mit einem Seelengefährten stören!“
Shora holte aus und schlug Alanée die Faust ins Gesicht. Überrascht stürzte diese gegen Kythara, was Shora die Zeit gab, in den Wald hineinzurennen.
„Komm zurück!“, rief die Königin empört, doch Alanée lachte bitter auf. „Die ist weg, ohne Magie holst du sie nicht mehr ein.“ Sie strich sich über die schmerzenden Wangenknochen, verwirrt den Kopf schüttelnd. „Was denkt sie sich nur?“
„Lass uns ihr trotzdem folgen, Alanée. Irgendetwas ist im Gange.“ Kythara zerrte die sonst so würdige Hexe auf die Füße und schleifte sie dann entschlossen mit sich an den Rand des nachtdunklen,
winterkahlen Waldes. „Pya hat sich verhüllt, das ist außergewöhnlich für eine Offenbarungsnacht. Shora hat Recht, wir müssen nach Inani sehen.“ Es war nicht weit bis zur Lichtung, dennoch schien
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