Toechter der Dunkelheit
ich mich näher an sein Schicksal herantrauen soll? Ein Sterbender verändert den Lauf der Welt nicht mehr … Kurz prüfte sie, ob die Sonnenpriester bereits nach ihr suchten, dann wagte sie, ihre Gestalt vor seinen Augen sichtbar werden zu lassen. Zwar besaß ihr Körper keine echte Stofflichkeit, doch der Prinz konnte nicht nach ihr greifen, deshalb war es gleichgültig.
„Eine Elfe?“ Thamars Stimme war brüchig, heiser von zu vielen Schreien und brennendem Durst. „Was willst du hier?“
Verwirrend, diese Nähe. Maondny zögerte immer noch, sich dem Wissen zu öffnen, das sich ihr aufdrängte. Dem Wissen, warum ihm dies widerfahren war. Was in seiner Zukunft liegen mochte.
„Wie ich schon sagte, du hast meine Visionen gestört. Merkwürdig, du besitzt keinen Funken Magie, und selbst wenn, du hättest keinen Grund, nach mir zu rufen.“
„Verzeiht, edle Dame, ich wollte Euch bestimmt nicht ...“ Hustenkrämpfe unterbrachen Thamars Spott. Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete sie ihn, sah zu, wie er hilflos um Atem kämpfte, gegen den Schmerz, bis er erneut das Bewusstsein verlor.
Was will ich hier eigentlich? Gedankenverloren betrachtete sie Thamars Schicksalsfaden im großen Muster. Wenn er stirbt, wird sein Bruder Ilat zukünftiger Herrscher von Roen Orm – so wie es geplant, gewünscht und für uns alle das Beste ist. Ilat ist ein interessanter Mann, zerstört von Wahnsinn. Er ist das vollkommene Werkzeug für die Töchter der Dunkelheit, ebenso für die Sonnenpriester. Ilat ist es, der meinem Volk zur Heimkehr verhelfen wird. Es wäre klug, Thamar sterben zu lassen, er ist bereits zu sehr verletzt. Ihr Götter, solche Wunden sollte kein sterbliches Wesen tragen müssen! Die Hexen könnten mit ihm nicht so leicht wie mit Ilat spielen, die Priester würden ihn fürchten. Falls Thamar diese Folter überlebt und Ilat tötet, wird er als misstrauischer, harter Mann regieren. Oh, er ist stark! Es bräuchte machtvolle Magie, um seine Seele zu heilen.
Magie, die Maondny nicht besaß.
Ein starker König ist gut für das Land, aber schlecht für mein Volk und die Hoffnung, jemals an den Weltenstrudel zu kommen, nichts als ein lächerliches Klammern an Illusionen. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Es wäre vernünftig, sofort zu verschwinden, bevor die Sonnenpriester auf sie aufmerksam wurden, und einfach zu warten, bis Thamar auf natürliche Weise aus ihren Visionen verschwand. Ihr Verstand sagte unerbittlich, dass dieser Menschenmann für sie selbst nur Kummer, für ihr Volk womöglich sogar den Untergang bedeuten würde.
Und doch ...
Er hat so gelitten. Ich habe schon so viele Kreaturen leiden und sterben sehen, meine eigene Schwester in den Fängen der Priester … Niemand war so trotzig, so tapfer, so unsinnig widerspenstig im Todeskampf. Er gefällt mir. Wesentlich besser als sein Bruder, der ihm das hier angetan hat! Ein Thronprinz, der seinen eigenen Bruder so foltern lässt, statt ihn einfach zu töten, wenn er ihn loswerden muss …
Wieder zuckte sie vor ihren eigenen Gedanken zurück, vor der Nähe zur wirklichen Welt.
Thamar ist nur ein Mensch, nach ihm würden schwächere Herrscher folgen. Es wäre also kein endgültiger Schaden. Falls ich dafür sorge, dass sich alles richtig fügt …
Erschrocken hielt Maondny inne.
Ich greife ein. Aber ich bin doch nur die Beobachterin! Ich darf nicht in das Schicksal eingreifen, es ist verboten!
Sie durfte kleinere Eingriffe vornehmen. Jemanden vor einem Fehltritt warnen oder einen tödlichen Unfall verhindern. Das hier allerdings würde weitreichende Konsequenzen für den gesamten Schicksalsfluss dieser Welt nach sich ziehen. Das war verboten!
Es wäre leicht. Maondny sah überall im Palast Diener, die kaum mehr als einen Gedankenanstoß brauchten, um die Rebellion zu wagen, den Prinzen zu befreien.
Es ist verboten!
Aber sie wusste längst, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Gegen die Vernunft. Gegen göttliches Gebot. Gegen die Pläne aller Mächtigen dieser Welt, was auch sie einschloss. Gegen die Hoffnung für ihr eigenes Volk.
Für diesen Mann.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Dort, der Wächter hasste sowohl den König als auch Ilat, den Thronfolger. Und hier, die Alte, die den Gefangenen Essen brachte, sie war Thamars Amme gewesen. Ein Ratgeber des Königs, er verabscheute Ilats Schwäche. Freunde von Thamar, seine Diener und Vertrauten, sie warteten angespannt auf ein Zeichen, endlich handeln zu dürfen. Dutzende
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