Toechter der Dunkelheit
Geschwister waren erfüllt von Musik. Menschen hörten die Erinnerung der Schöpfung an Pyas und Tis Musik gewöhnlich nicht mehr, Tiere hingegen nahmen sie mit anderen Sinnen noch wahr. Fasziniert ließ Inani sich auf die Empfindung ein, die dazu gehörte und spürte tatsächlich das rhythmische Pulsieren, das die gesamte Welt durchströmte. Magische Energien waren für die Schlange kaum mehr als eine intensive Ballung von Harmonien, die dafür sorgten, dass der Pulsschlag der Welt sich kurz veränderte.
Entschlossen riss sie ihren trudelnden Verstand von diesen Gedanken los und konzentrierte sich wieder auf das, was ihr Gefährte ihr gesagt hatte.
Sie hatte versucht, der Kyphra einen Namen zu geben, doch diese lehnte es ab. Nichts konnte die Schlange dazu bringen, sich als einzelne Persönlichkeit zu empfinden. Sie war Kyphra, Teil der
Schöpfungsharmonie. Das Gedankenbild, das hinter einem Namen stand, verwirrte sie nur.
„Wer brachte das blaue Lied-Licht?“ , fragte Inani.
Die Kyphra schwieg lange. Das, was sie hinderte, Namen zu verstehen, erschwerte ihr auch die Benennung eines einzelnen Lebewesens. So dauerte es, bis sie schließlich ein Bild formen konnte:
„Es war Mensch-Frau-Hüterin der Kyphra-Schwester.“
Inani erstarrte. „Kyphra-Schwester“, das war sie selbst, ihr Gefährte hatte kein Bild, das ihre Bindung näher beschreiben könnte als die Nähe, die er für diejenigen empfand, die mit ihm gemeinsam aus dem Gelege
geschlüpft waren. Es war keine familiäre Liebe, vielmehr ein Instinkt, diese Geschwister nicht anzugreifen und darauf zu vertrauen, dass sie ihn ebenfalls nicht töten würden in dem Moment, in dem er sein schützendes Ei verließ.
Mensch-Frau-Hüterin …
„Unmöglich! Nicht meine Mutter, sie ist nicht meine Feindin!“, schrie Inani auf.
„Ist sie nicht. Sie hütet dich, sie ist warm für dich.“
Wärme – Liebe. War es wirklich Liebe? Aber wie konnte Shora ihr das antun?
Weinend sank sie in sich zusammen, verzweifelt, verlassen. Allein. Allein in diesem dunklen, nassen Wald voller wimmelnder Insekten und Raubtiere, mit einer Schlange, die zwar einem Teil ihrer Seele nah war, doch zu fremd, um ihren Schmerz zu verstehen. Aufgeregt wand sich die Kyphra über Inanis zuckende Schulter, versuchte in wachsender Panik die Wunde zu finden, die diesen Schmerz verursachte.
„Rudel-Frau …“ Ein anderer Geist griff nach Inani, zögernd, aus weiter Entfernung. Sie öffnete sich dem Ruf und erkannte die Stimme in einem anderen Teil ihrer Seele: Der Panther rief nach ihr.
„Wo bist du?“, fragte sie sehnsüchtig. So nah sie der Kyphra war, das Reptil konnte ihr nicht helfen. Der Panther hingegen lebte zwar nicht im Rudel, doch er kannte familiäre Bindung, Zärtlichkeit und Nähe, soweit wie es unter Leoparden eben möglich war.
Etwas schob sich in ihr Bewusstsein, ein mentaler Faden, ein Band vor ihrem inneren Auge. Aufgeregt drängte sie aus dem Gebüsch heraus, packte die Schlange und folgte dieser Leitschnur, die rotglühend den Weg wies. Sie zögerte, als ihr klar wurde, wohin sie das führen würde: Hinein in den Nebel. Ihr Vertrauter befand sich auf der anderen Seite. Niemand hatte Inani bis jetzt gelehrt, wie man den Nebel magisch erwecken und als Tor benutzen konnte. Wieder rief der Panther nach ihr, und entschlossen trat sie in die Nebelschwaden hinein.
Lass mich durch, ich kenne meinen Weg!, dachte sie so fest wie möglich. Die Bindung zwischen ihr und der Raubkatze wies ihr unverändert die Richtung. Inani folgte ihr, konzentrierte dabei ihre Magie darauf, die Welt um sich zu einem Pfad zu formen, der genau zum Panther führen sollte.
„Der Nebel ist unser Burggraben, unsere Festungsmauer, Inani. Nur wer Erd- und Wassermagie beherrscht, kann sich einen Weg hindurch suchen, und nur wer sein Ziel kennt, wird dort auch ankommen. Wer sich fürchtet oder nichts von diesen Gesetzen weiß, verirrt sich im Nebel und findet niemals wieder nach Hause zurück.“ So hatte Shora es ihr erklärt.
Ihre Mutter ...
Inani verdrängte den Schmerz und schritt so rasch wie möglich voran. Schon lichteten sich die Schwaden, sie fand sich in einem sonnendurchfluteten Wald wieder. Die Raubkatze erwartete sie, entspannt auf einem Baum liegend. Elegant sprang das Tier von dem Ast herab und näherte sich ihr.
„Es ist gut, dich zu sehen!“, begrüßte sie das Pantherweibchen.
„Dein Schmerz rief nach mir, Gefährtin“, erwiderte die Katze mit leisem, friedvollem Grollen.
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