Toechter der Dunkelheit
mächtig war wie heute“, fasste er mit tonloser Stimme zusammen.
„Ganz so ist es nicht. Wenn der Siegelstein im rechten Moment zerstört wird und die Elfen zurückkehren, dann wird auch Osmege vernichtet werden. Die Prophezeiung erzwingt dies.“
Sie lächelte über seinen verwirrten, müden Gesichtsausdruck.
„Weißt du, Jordre, ein Seher ist das gefährlichste Wesen, das es überhaupt gibt. Er erblickt unzählige mögliche Verzweigungen, die eventuell geschehen könnten. Sobald er eine dieser Möglichkeiten laut ausspricht und dafür sorgt, dass jemand seine Prophezeiung hört, wird diese Zukunft die wahrscheinlichste von allen. Hm – sagen wir, ich würde Jinivy prophezeien, dass er morgen an Schnupfen erkrankt, was würde daraus folgen?“
„Wie ich Jinivy kenne vermutlich, dass er darüber lacht, aber vorsorglich nicht aus dem Haus geht, wenn es regnet.“
„Sehr richtig.
Statt aus dem Haus zu gehen, lässt er Gilom zu sich kommen, um mit ihm Schnitzsteine zu werfen. Gilom ist erkältet und schon ...“
„... steckt sich Jinivy an und wird krank, was nicht geschehen wäre, hättest du ihm nichts gesagt“, beendete Jordre leicht ungeduldig den Satz. „Ein Prophet beeinflusst also mit jedem seiner Worte die Orn um sich herum.“
„Ja, und auch mit seinem Schweigen, seinen Handlungen ... Und vor allem mit der Magie, die er besitzt. Du bist auserwählt, die Steintänzerin zu finden und zu ihrem Schicksal zu führen. Wenn es euch gelingt, und die
Elfen den Zugang zum Weltenstrudel bis dahin erzwungen haben, wird Osmege vernichtet werden.“
Jordre wollte etwas erwidern, doch sie hob erneut warnend die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein fernes, raschelndes Geräusch hallte durch die Gänge.
„Osmeges Späher!“, zischte Chyvile. „Komm schnell! Die Skattels dürfen uns nicht erwischen!“
Unwillkürlich erschauderte Jordre, bevor er auf die Füße sprang. Skattels waren gefährliche Biester, eine Mischung aus Chamäleon und Flusskrebs, tödlich zu Land und zu Wasser. Sie tauchten stets in riesigen Horden auf und ihren beinahe faustgroßen Augen entging nichts. Widerstandslos ließ er sich von Chyvile quer durch die Höhle und in weitere finstere Gänge hineinziehen, stetig bergab, bis das leise Rauschen, das Jordre kaum hatte wahrnehmen können, zu einem lauten Strömen geworden war. Direkt vor ihnen befand sich ein unterirdischer Fluss, schmal und recht flach an der Stelle, an der sie hinein wateten, aber die Strömung war stark und wild. Jordre war an eisige Wassertemperaturen gewöhnt: Er ignorierte den Schmerz, der seinen Körper umfing, als er sich ohne jede Vorsicht fallen und mitreißen ließ. Wann immer er konnte, kraulte er, um weiter zu beschleunigen, im vollen Vertrauen darauf, dass seine Mutter ihn vor Felsen und Strudeln schützen würde. Die Dunkelheit machte ihm dennoch mehr Angst, als er sich selbst eingestehen wollte, und so war er froh, als er Chyviles Hände an seinem Rücken spürte, während sie sich über ihn schob. Die Famár war hier in ihrem ureigensten Element. Jordre brauchte sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie vor Vergnügen lachte, er spürte es, als sie ihn schützend an sich zog. Sie musste nicht auftauchen, sie konnte willentlich Kiemenklappen an ihrem Hals ausbilden, sobald sie sich im Wasser
befand. An Land würden die Kiemen sie beim Sprechen behindern, doch hier konnte sie mit ihm reden, auch mit dem Kopf unter Wasser.
„Achtung, gleich kommt ein Wasserfall!“, warnte sie ihn. Hektisch schnappte er nach Luft, tauchte unter und umklammerte den Körper seiner Mutter, machte sich dabei so klein wie nur möglich. Nun hörte er auch das Rauschen, spürte, wie der Wassersog immer stärker wurde. Und schon wurden sie über die Felsenkante geschleudert, rasten einen Moment lang schwerelos fallend durch die Luft, prallten dann wieder hart auf die Wasseroberfläche.
„Großartig!“, schrie Chyvile begeistert und lachte wie ein kleines Kind. Trotz aller Angst und der lähmenden Kälte – Jordre lachte innerlich mit ihr. Nie war er seiner so fremdartigen Adoptivmutter näher als in diesen Augenblicken, wenn sie jede Selbstbeherrschung fallen ließ.
Der wilde Ritt durch das Wasser nahm jedoch kein Ende. Er spürte bereits die gefährliche Müdigkeit, die ihn warnte, dass er zu erfrieren drohte – nicht zum ersten Mal.
„Wir kommen gleich ins Freie!“, rief Chyvile ihm aufmunternd zu.
Der Tunnel, durch den sie trieben, verengte sich. Nicht
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