Töchter Der Finsternis
Mark war hochgeschnellt und schaute hinaus. Er holte tief Luft und machte ein ersticktes Geräusch. Vielleicht versuchte er eine unschuldige Erklärung für die Sache zu finden. Sie drückte mitfühlend seine Schulter.
Beide beobachteten, wie die Mädchen sich beim Graben abwechselten. Mary-Lynnette war wieder überrascht, wie stark sie waren. Dabei wirkte Jade so zerbrechlich.
Jedes Mal, wenn die Schwestern sich im Garten umschauten, setzte Mary-Lynnettes Herzschlag aus. Bitte seht uns nicht, bitte hört uns nicht, bitte entdeckt uns nicht, flehte sie stumm.
Als sie tief genug waren, griffen Rowan und Kestrel in das Loch. Sie hoben das lange, in Plastik verpackte Bündel heraus, das Mary-Lynnette schon einmal gesehen hatte. Es schien steif und erstaunlich leicht zu sein.
Zum ersten Mal fragte sich Mary-Lynnette, ob es vielleicht zu leicht war, um eine Leiche zu sein. Oder zu steif? Wie lange hielt die Leichenstarre an?
Mark atmete rasselnd.
Die Mädchen trugen das Bündel zur Lücke in der Hecke.
Er fluchte.
Mary-Lynnettes Gedanken überschlugen sich. „Mark, du bleibst hier. Ich folge ihnen", zischte sie ihm zu.
„Ich gehe mit dir."
„Du musst Dad Bescheid sagen, falls mir etwas zustößt"
„Ich komme mit"
Es war keine Zeit, um lange zu streiten. Und eigentlich war sie froh, dass Mark bei ihr war.
„Dann komm und sei ganz leise."
Sie machte sich Sorgen, dass sie die Schwestern vielleicht schon verloren hatten. Die Nacht war sehr dunkel. Aber als sie und Mark sich durch die Hecke quetschten, sah sie vor sich ein kleines, weißes Licht. Die Schwestern benutzten eine Taschenlampe.
Sei leise, bewege dich vorsichtig. Mary-Lynnette wagte nicht, es Mark laut zu sagen, aber sie wiederholte es in Gedanken immer wieder wie ein Mantra. Ihre ganze Konzentration galt dem kleinen Lichtstrahl, der sie durch die Dunkelheit führte.
Das Licht leitete sie nach Süden durch einen Hain von Fichten. Nicht lange danach gingen sie in den Wald. Wo wollen die hin? fragte sich Mary-Lynnette. Sie fühlte, wie ihre Muskeln leicht zitterten, während sie sich bemühte, so schnell wie möglich zu gehen, ohne dabei ein Geräusch zu machen. Sie hatten Glück. Der Waldboden war mit einem Teppich von Tannennadeln bedeckt. Die Nadeln dufteten, waren leicht feucht und dämpften ihre Schritte.
Mary-Lynnette konnte selbst Mark hinter sich kaum hören.
Sie schienen eine Ewigkeit zu laufen. Es war völlig dunkel, und Mary-Lynnette verlor sehr schnell jede Orientierung. Sie hatte keine Ahnung, na/o sie waren oder wie sie den Rückweg finden sollten.
Ich muss verrückt sein, so etwas zu tun und Mark auch noch mit hineinzuziehen, dachte sie.
Wir sind mitten im tiefsten Wald mit drei verrückten Mädchen ...
Das Licht bewegte sich jetzt nicht mehr.
Mary-Lynnette blieb stehen und streckte den Arm aus, in den Mark prompt hineinlief. Sie starrte auf das Licht und versuchte zu erkennen, ob es sich wirklich nicht mehr vorwärts bewegte.
Nein. Es blieb auf der Stelle und war auf den Boden gerichtet.
„Lass uns näher rangehen", flüsterte Mark seiner Schwester ins Ohr. Sie nickte und schlich so leise und langsam auf das Licht zu, wie sie nur konnte. Alle paar Schritte hielt sie inne, blieb ganz still stehen und wartete ängstlich, ob die Taschenlampe sich nicht in ihre Richtung drehte.
Es geschah nichts. Sie ließ sich fallen und kroch die letzten zehn Meter auf dem Bauch bis zum Rand der Lichtung, wo die Mädchen Halt gemacht hatten. Von dort aus hatte sie einen guten Blick auf das, was sich vor ihr abspielte.
Sie gruben. Kestrel hatte Tannennadeln zur Seite gekehrt und arbeitete an einem Loch.
Mary-Lynnette fühlte, wie Mark neben sie kroch. Seine Brust hob und senkte sich heftig, denn er sah ja das Gleiche wie sie.
Es tut mir Leid, Mark, dachte sie. Es tut mir so unendlich Leid.
Jetzt gab es keinen Grund mehr, es abzuleugnen. Mary-Lynnette wusste es. Sie brauchte nicht einmal einen Blick in den Sack zu werfen.
Aber wie soll ich diesen Ort wieder finden? fragte sie sich.
Wenn ich mit dem Sheriff komme, wie soll ich mich daran erinnern, wo die Lichtung war?
Das ist wie ein Labyrinth in einem Computerspiel. Überall nur Bäume, und nichts, woran man sich orientieren könnte.
Sie biss sich auf die Lippen. Das Bett aus feuchten Tannennadeln, auf dem sie lag, war tatsächlich bequem. Sie konnten hier eine lange Zeit warten, bis die Schwestern weg waren, und dann irgendwie die Bäume kennzeichnen. Ihre Socken daran binden. Fotos
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