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Töchter der Luft

Töchter der Luft

Titel: Töchter der Luft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Glemser
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uns in der Eingangshalle — diese große Blondine mit dem süßen Gesicht, die mir so gut gefallen hatte. Sie lächelte, als sie uns erblickte, und sagte: »Hallo! Ich hielt’s für richtig, hier auf euch zu warten und euch den Weg zum Unterrichtsraum zu zeigen, ihr hättet euch sonst bestimmt verlaufen. Also, mir nach«, und sie marschierte los, beschwingten Schrittes. Sie führte uns durch meilenlange Korridore, hinein in ein großes altmodisches Klassenzimmer, in dem nichts fehlte, nicht die Wandtafel, nicht ein abgewetztes, altes Katheder, nicht die Reihen enger Schulbänke.
    »Da wären wir«, sagte Miß Webley. »Sucht euch einen Platz, ganz gleich, wo. Heute kommen wir sowieso nicht zu ernsthafter Arbeit, heute gibt es eine Menge Formalitäten zu erledigen — Untersuchung beim Arzt, eure Anmeldungen, Maßnehmen für die Uniformen und —«
    In diesem Augenblick tauchte Miß Pierce in der Tür auf mit Alma. Gute Alma. Was hätte ich ohne Alma angefangen, wie habe ich nur all diese Jahre ohne Alma zubringen können? Sie stand da, Tränen in den schönen Augen, während Miß Pierce und Miß Webley sich mit gedämpften Stimmen berieten.
    Dann rief Miß Webley: »Carol Thompson.«
    Ich stand auf.
    »Ah, ja. Ich erinnere mich jetzt. Sie sind das Mädchen, das Alma di Lucca hilft. Sie sprechen Italienisch, nicht wahr?«
    »Ja, Miß Webley.«
    »Nun, ich glaube, in dem Fall können wir Miß di Lucca in diese Klasse hinübernehmen, damit Sie ihr auch weiterhin helfen können.« Sie blickte auf ein Papier auf ihrem Pult.
    »Grace O’Mally. Sie gehen in Miß Pierces Klasse anstelle von Miß di Lucca.«
    O’Mally zog trübsinnig mit Miß Pierce ab. Alma klemmte sich auf den Platz zu meiner Linken. Donna saß rechts von mir.
    Miß Webley fuhr fort, als wäre nichts geschehen. »Nun, wie gesagt, wir werden heute nicht allzuviel arbeiten können wegen all dieser Dinge, die ihr zu tun habt. Aber bitte vergeßt es nicht, dies hier ist euer Sammelpunkt. Wann immer ihr fertig seid mit der Untersuchung oder mit der Anmeldung, habt ihr hierher zurückzukommen, so daß niemand verlorengeht. Ist das klar?«
    »Ja, Miß Webley.« Es war, als wäre man wieder im Kindergarten.
    »Nun, ein oder zwei Punkte wären noch zu klären —«
    Wieder hielt sie inne. Ein Mädchen mit einer Brille kam an ihr Pult und reichte ihr einen gefalteten Zettel. Miß Webley las, runzelte die Stirn und sagte: »Carol Thompson, Donna Stewart, Alma di Lucca.«
    »Ja, Miß Webley«, riefen wir im Chor.
    Ihre Stimme war tonlos. »Ihr drei habt euch beim Ausbildungsleiter zu melden. Betty wird euch sein Büro zeigen.«
    Betty war das Mädchen mit der Brille. Sie wartete an der Klassentür, während wir uns aus diesen schmalen Pulten wanden. »Hier entlang, bitte«, sagte sie und ging uns voran den Korridor entlang. »Die Treppe hier hinauf. Wir sind jetzt im zweiten Stock.«
    Ich sagte zu ihr: »Wer ist der Ausbildungsleiter?«
    Sie schaute mich an, als wäre ich übergeschnappt. »Sie kennen! ihn doch. Mister Garrison.«
    »Oh«, machte ich.
    »Was ist dieses?« sagte Alma. »Was geschehen, Carola?«
    »Gar nichts«, sagte ich. »Keine Bange.« Mein Mund war trocken, und meine Knie schlotterten, aber ich war ungemein stolz auf mich, weil ich so vorausschauend gewesen war und dieses schlichte, schwarze Kleid angezogen hatte.

    Wir warteten etwa fünf Minuten in einem kleinen Vorraum, während Betty sich hinter ihre Schreibmaschine klemmte und darauf losratterte wie ein Maschinengewehr. Es gab nur einen einzigen Stuhl, und ich drückte Alma darauf, hauptsächlich, um sie nicht vor Augen haben zu müssen. Donna war ein wenig blaß, aber es gelang ihr, die Lippen zu dem Schatten eines Lächelns zu verziehen, und als sie mich anschaute, sah ich, daß ihre Augen ungewöhnlich leuchteten, und sie leuchteten nicht nur, sie waren auch noch tiefer grün — sie hatten die Farbe ihrer Bluse angenommen. Ich vertrieb mir die Zeit, mir die Augen anderer Menschen vorzustellen: zum Beispiel kannte ich mal einen Jungen, Oswald hieß er, der hatte auch diese Zauberaugen — sie waren mal blau, mal grau, mal grün, ja sogar braun, man möge es glauben oder nicht, je nach der Krawatte, die er trug. Tom Ritchies Augen waren einfach knopfbraun. Die Augen meines Vaters waren von seltsamem Blau gewesen, sehr dunkel, fast violett. Meiner Mutter Augen waren kornblumenblau —
    Das Telefon auf Bettys Schreibtisch schrillte. Sie meldete sich mit einem tonlosen »Hallo«, legte den

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