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Töchter der Luft

Töchter der Luft

Titel: Töchter der Luft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Glemser
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steif nach vorn ans Pult und reichte ihr einen gefalteten Zettel; und ich überlegte müßig, welcher arme Tropf wohl diesmal vor Gericht gerufen würde. Und weswegen? Vielleicht wegen eines Lächelns, das sie dem Portier im Charleroi geschenkt hatte?
    Miß Webley sagte: »Carol Thompson.«
    Ich traute meinen Ohren nicht. O nein! Nicht schon wieder Tolpatsch Thompson! Es war einfach nicht möglich! Was konnte ich diesmal verbrochen haben? Gab es keine Gerechtigkeit auf dieser Erde?
    Ich stand auf, zitternd wie Espenlaub.
    Miß Webley sagte: »Bitte gehen Sie in Doktor Duers Büro. Betty wird Ihnen den Weg zeigen.«
    »Doktor wer?«
    »Doktor Duer. Doktor Ray Duer.«
    Ich sagte: »Miß Webley. Ich bin gestern schon untersucht worden — von Dr. Schwartz.«
    »O nein. Das ist etwas ganz anderes.« Miß Webley wandte sich an die ganze Klasse. »Ich muß euch das erklären. Doktor Duer ist der für die Ausbildungsschule zuständige Psychiater. Er wird sich zu gegebener Zeit mit jeder von euch unterhalten. Carol, wollen Sie bitte mit Betty mitgehen? Lassen Sie Doktor Duer nicht warten.«
    Heiliger Bimbam, fuhr es mir durch den Kopf, das ist das Ende. Ein Psychiater. Was wird ihnen als nächstes einfallen?

    Es war der Mann mit der Hornbrille, den ich bei drei verschiedenen Gelegenheiten mit Mr. Garrison zusammen gesehen hatte. Betty ließ mich draußen vor seinem Büro stehen, das im zweiten Stock lag, und als ich an die Tür klopfte, hatte ich nicht die leiseste Idee, wer mich dort erwartete. Aber dann öffnete sich die Tür, und da stand er, sehr freundlich, aber noch immer elektrifizierend in einem hübschen blauen Anzug, der formell und zwanglos zugleich war. »Hallo, Miß Thompson«, sagte er. »Freut mich, Sie zu sehen. Bitte kommen Sie herein.« Er schloß die Tür und führte mich zu einem bequemen Stuhl mit einer Rückenlehne und einem Sitz aus Leder und sagte: »Machen Sie sich’s bequem. Wie war’s mit einer Zigarette?«
    Ich dachte: Zigarette. Hm. Sollte ich oder sollte ich nicht? Dies ist kein menschliches Wesen, Tolpatsch Thompson. Dies ist ein Psychiater. Sei jetzt auf deiner Hut.
    Und dann dachte ich: Zum Teufel. Wenn ich alt genug bin, um analysiert zu werden, dann bin ich auch alt genug, um zu rauchen. Ich sagte: »Vielen Dank, Sir. Ich hätte gern eine Zigarette.«
    »Gut«, sagte er. Er bot mir eine Kent an und gab mir Feuer, und nachdem dies getan war, setzte er sich auf seinen Stuhl und blickte mich über den Schreibtisch hinweg an. Ich erwiderte seinen Blick; offen und gerade schaute ich ihm in die Augen, ohne eine Spur von Angst, so wie man eine Klapperschlange anschauen soll, wenn man auf Reisen zufällig einer begegnen sollte.
    Das Dumme war nur, ich war in den letzten paar Tagen zu oft gebissen worden von Leuten, die ich für vertrauenswürdig gehalten hatte. Von Mr. Garrison, der so nett gewesen war, wie man nur sein kann, und der meinen Glauben an die Menschheit gründlich zerstört hatte. Und von Doktor Schwartz, die so reizend und charmant gewesen war und die Jurgy angezeigt hatte, daß sie vor zig Jahren ein Kind gehabt hatte. Selbst unsere Miß Webley hatte mir einen Biß versetzt, indem sie so getan hatte, als könnte sie kein Wässerchen trüben, und dann hatte sie uns die kalte Angst in den Nacken gehetzt. Und hier war noch einer aus demselben Nest. Nett? Ja, er war netter als nett. Er warf mich fast um von dem Augenblick an, da er anfing zu reden; seine Stimme war so warm und herzlich. Er hatte eine angenehme Größe, nicht zu groß und nicht zu klein, und auch seine Züge waren angenehm — die richtige Menge dunklen Haares, ein interessanter Mund und ein Grübchen im Kinn. Angenehm von oben bis unten, bis auf diese grauen Augen mit den schwarzen Wimpern (und nicht nur schwarze Wimpern, sondern dichte schwarze Wimpern, eine doppelte Reihe von Wimpern vermutlich, wie bei Elizabeth Taylor). Ich hielt ihn für ungefähr dreißig oder zweiunddreißig. Alles in allem war er ein erfreuliches Exemplar dieses wissenschaftlichen Typs, den man heute mehr und mehr antrifft. Und, wie gesagt, er hätte nicht liebenswürdiger sein können.
    Er sagte leutselig: »Dies ist nur ein, oh, ein harmloser kleiner Schwatz, um Sie kennenzulernen. Ganz zwanglos. Wie kommen Sie voran in der Klasse?«
    Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich bis jetzt kaum mehr als eine Stunde in der Klasse gewesen war. Es sei zu früh, um zu sagen, wie ich vorankäme.
    »Das stimmt.« Er blickte auf ein Papier auf seinem

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