Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Scheinheilige! Er hatte kein Recht dazu.«
»Wir finden schon ein anderes Exemplar für dich«, verspricht Sachi und hakt sich bei ihr unter. »Du könntest Mrs Belastra fragen, wenn du wieder zu Hause bist.«
Doch Rory schüttelt sie ab. »Es wird aber nicht das Gleiche sein! Es wird nicht meins sein.«
»Was denn? Worum geht es?«, frage ich verwirrt. Auf der anderen Seite des Platzes treten jetzt Wachen aus der Kathedrale, in ihrer Mitte eine breitschultrige, ganz in Schwarz gekleidete Person. Das muss Covington sein. Die Menschen drängen zur Bühne. Es heißt, Covington wäre ein großartiger Redner; die Leute nehmen Reisen von mehreren Tagen in Kauf, um seine Predigten zu hören, obwohl sie am nächsten Tag im New London Sentinel zu lesen sind.
»Vater wollte auch etwas zum Feuer beitragen«, erklärt Sachi. »Er hat unsere Sachen durchsucht, als wir gestern einkaufen waren, und ein paar unserer Bücher an sich genommen. Eins davon hat Rory sehr viel bedeutet.«
» Kassandra «, fügt Rory hinzu. Ich kenne das Buch. Tess hatte es, als sie klein war. Ich fand die Geschichte ein bisschen unheimlich – die Abenteuer einer Puppe, die zum Leben erwacht, wenn das Kind schläft. »Ich kenne das Buch in- und auswendig. Auf Seite dreizehn ist ein Marmeladenfleck. Mama war noch nicht einmal böse deswegen, so gute Laune hatte sie damals. Wir hatten einen Nachmittagstee mit meinen Puppen veranstaltet.«
»Du hast mit deiner Mutter Puppen gespielt?«, fragt Sachi. Um uns herum sammeln die Kinder ihre Spielsachen auf und laufen zurück zu ihren Eltern. Alle warten gespannt darauf, dass die Zeremonie beginnt.
»Sie war nicht immer so wie jetzt.« Rory blinzelt ein paar Tränen weg. Mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Taschen ihres Umhangs vergraben, fährt sie fort: »Als ich klein war, war sie noch richtig lieb. Sie hat Kleider für meine Puppen genäht und sich mit mir zusammen Geschichten ausgedacht, was sie für Abenteuer erlebten, während ich schlief, genau wie bei Kassandra.«
Ich versuche, mir diese Version von Rorys Mutter vorzustellen. Sie muss früher einmal eine anständige Person gewesen sein, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Ich kenne sie nur als merkwürdige Einzelgängerin, die angeblich durch ein Nervenleiden ans Haus gefesselt ist, tatsächlich aber einfach der Trinksucht anheimgefallen ist. Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht verhaftet worden ist – oder vielleicht auch nicht. Möglicherweise fürchtet Bruder Ishida, dass bestimmte Geheimnisse ans Licht kommen könnten, wenn ihr der Prozess gemacht würde.
Ich kenne das Gefühl sehr gut, die eigene Mutter zu vermissen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es sein muss, wenn sie einem fehlt, obgleich sie doch da ist.
Sachi hakt sich bei Rory unter, und wir gehen ein paar Schritte in Richtung Bühne, als darauf ein gut aussehender Mann mit breiten Schultern erscheint. Er hat ausgeprägte Wangenknochen und schwarzes Haar, das an den Schläfen ergraut ist. Der schlichte schwarze Umhang der Bruderschaft wirkt irgendwie richtig edel an ihm. Ich habe den Mann noch nie vorher gesehen, aber ich weiß sofort, wer er ist. Alle in Neuengland wissen, wer er ist. Bruder William Covington ist der Vorsitzende des Nationalrats.
Jetzt steht er oben auf der Bühne, und die Menge wird langsam ruhiger. Väter heben sich ihre Kinder auf die Schultern. Ein Dutzend Wachmänner steht in schwarz-goldenen Livrees um das Podium aufgereiht. Ich bemühe mich um einen ehrerbietigen Gesichtsausdruck. Covington spricht jetzt mit einer Stimme so süß wie Honig:
»Romane befeuern die Vorstellungskraft auf gefährliche Weise. Sie fordern unsere Mädchen zu riskanten Gedankenspielen heraus, obwohl es in Wirklichkeit gar keine Spielräume gibt. Was zählt, ist das Hier und Jetzt. Was zählt, ist der Weg, den der Herr für euch vorgesehen hat.« Covington lässt den Blick über die Menge schweifen und gestikuliert dabei auf eine Art und Weise, die mir den Eindruck vermittelt, er würde direkt zu mir sprechen. »Wir müssen andere Fähigkeiten bei unseren Mädchen fördern. Wir müssen sie zu guten, gehorsamen Töchtern und ergebenen, demütigen Ehefrauen erziehen. Unsere Mädchen müssen reinen Herzens, sanftmütig und tugendhaft sein. Wenn sie Fragen haben, wenn sie Sehnsüchte haben, die sie nicht verstehen, sollten sie sie dem Herrn darbringen – und uns, den Vertretern des Herrn hier auf Erden.«
Der Himmel hat sich inzwischen tintenblau
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