Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Gottesdienst.
Ob Maura und Tess bereits den Brief von Schwester Cora erhalten haben? Oder ob sie immer noch in Chatham sind und dort vielleicht gerade einer ähnlichen Bücherverbrennung beiwohnen müssen? Sie würden es für einen Frevel halten und mit Sicherheit eingreifen wollen. Und auch Vater würde es nicht leicht fallen, einfach so danebenzustehen und zusehen zu müssen, wie ein Buch nach dem anderem in die Flammen geworfen wird.
Die Frau, die von den Wachen ins Feuer gestoßen wurde, hätte ebenso gut Marianne Belastra sein können.
»Die Frau hat doch niemandem etwas getan«, zischt Rory auf einmal. »Und ebenso wenig tut mein Buch irgendwem etwas. Das ist doch lächerlich!«
Jetzt steht ihr Vater vorne. Rory hat den Blick auf das Buch in seinen Händen gerichtet, ein dünnes Buch mit dem Bild einer Puppe und dem rosafarbenen Schriftzug Kassandra darauf.
»Er muss sich nun mal an die Regeln halten.« Sachis Schultern sind vor Kummer ganz starr. »Das weißt du doch. Er glaubt eben nicht an Ausnahmen.«
»Noch nicht einmal, wenn es um seine eigenen Töchter geht?« Rorys Unterkiefer zuckt.
Töchter? Vor Überraschung falle ich fast nach hinten um. Rory weiß es?
»Noch nicht einmal dann«, sagt Sachi und wirft mir einen schuldbewussten Blick zu. Wann hat sie es Rory gesagt?
»Verteidigst du ihn etwa?« Rory wird lauter. Die Leute um uns herum sehen bereits zu uns herüber.
»Pst!« Sachi zieht sie zurück in den Schutz des Rotahorns, und ich folge ihnen. »Nein. Ich verteidige ihn nicht. Ich bin natürlich auf deiner Seite. Ich bin immer auf deiner Seite, Rory.«
Doch Rory zittert vor Wut. »Ich hasse ihn«, spuckt sie aus, während sie beobachtet, wie Bruder Ishida auf der anderen Seite des Platzes Kassandra ins Feuer wirft.
Das Feuer wird immer größer, die Flammen sind inzwischen bestimmt schon fünf oder sechs Meter hoch. Die plötzliche Hitze des Flammenmeers lässt die Brüder zurückschrecken. Frauen schreien entsetzt, und die Leute schlagen sich bestürzt Funken von der Kleidung und treten fluchend mit den Stiefeln danach.
»Hexerei!«, ruft Bruder Covington.
Und da sehe auch ich es: Das Buch fliegt durch die rauchgeschwängerte Luft, über die Köpfe der entsetzten Menge und die der Schwesternschaft hinweg direkt auf uns zu.
Ich drehe mich zu Sachi und Rory um. Es ist Rory. Das Feuer spiegelt sich in ihren leeren braunen Augen. Sie macht das hier gerade. Sie hat die Kontrolle verloren.
»Rory«, flüstere ich. Sie muss wieder zu sich kommen. Das Buch ist jetzt beinah über uns, und dann …
Sachi reckt sich in die Höhe und fängt es. Sie drückt sich das Buch an die Brust und hält es umklammert, als wäre es ein sehr, sehr wertvoller Schatz.
Um uns herum weicht die Menge zurück. Angstvolle, entsetzte Schreie sind zu hören. Die Leute zeigen auf Sachi und keuchen. Rufe werden laut: »Hexerei!«, »Magie!«, »Der Herr steh uns bei!« Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein reiches Mädchen in weißem Pelz in Ohnmacht fällt und von einem untersetzten Mann mit Backenbart und karierter Hose aufgefangen wird. Wahrscheinlich haben die wenigsten dieser Leute hier jemals zuvor echte Magie gesehen. Zwei Jungen mit dreckigen Gesichtern kommen neugierig auf uns zugelaufen, ehe sie von ihren gellend schreienden Müttern zurückgerufen werden.
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Schwesternschaft. Schwester Cora, Inez, Alice, Rilla, sie alle starren nicht Sachi oder Rory an, sondern mich. Mir wird heiß. Ich sollte nicht hier sein, ich sollte keine Aufmerksamkeit auf mich lenken, aber ich kann mich jetzt nicht davonstehlen. Ich kann die beiden jetzt nicht alleine lassen.
»Sachi, nein!« Rory versucht, ihrer Schwester das Buch zu entreißen, aber Sachi stößt sie mit solcher Gewalt von sich, dass Rory hinfällt.
»Bleib weg von mir«, knurrt Sachi.
Guter Gott, was hat Rory getan?
Meine Gedanken drehen sich hilflos im Kreis. Es gibt nichts, was ich tun kann, nichts, womit ich das hier wieder in Ordnung bringen könnte. Die Wachen der Bruderschaft bahnen sich bereits ihren Weg durch die Menge, sie haben uns fast erreicht. Alle haben gesehen, wie Sachi gezaubert hat – oder vielmehr, sie glauben, es gesehen zu haben.
Rory kommt wieder auf die Beine. Ihr Kinn, ihre Hände, die edle Pelzkapuze sind mit Matsch bespritzt. Kurz bevor die Wachmänner uns erreichen, bekomme ich sie am Arm zu fassen und ziehe sie fort. Im nächsten Moment schlägt ein großer, bärtiger Mann Sachi auch schon
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