Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Wände. Ein Dutzend Patientinnen liegt weinend und hustend in den schmalen Metallbetten, in der Luft hängt der Geruch von Kupfer oder Blut.
In einer Ecke ruft ein Mädchen im Schlaf nach seiner Mutter. Ein anderes dünnes Mädchen wird von einem fürchterlichen trockenen Husten geplagt. Addie sitzt neben einer zum Skelett abgemagerten alten Frau, die die Luft so scharf und schnarrend einsaugt, als wäre jeder Atemzug ihr letzter. Addie sieht so jung aus neben ihr, den Kopf zum Gebet gesenkt, die glatten braunen Haare zu einem Nackenknoten zurückgebunden. Sie berührt die Hand der Frau, die daraufhin in einen sanften Schlaf fällt.
Zögernd bleibe ich in der Tür stehen, auf meinem Rücken sammelt sich der Schweiß. Ich will da nicht hineingehen. Es erinnert mich viel zu sehr an das Krankenzimmer meiner Mutter, an Tod und Sterben. Die beiden Krankenschwestern, die ihre Aufgaben in die fürsorglichen Hände der Schwestern gelegt haben, stehen am anderen Ende des Ganges und unterhalten sich lachend.
Schwester Sophia kommt auf mich zu. »Da ist eine Patientin, die meine Fähigkeiten übersteigt. Könntest du dich kurz zu ihr setzen und ihr vielleicht helfen?«
Sophia führt mich zu einer Frau, die sich stöhnend im Bett hin und her wirft. Sie hat dunkle lilafarbene Schatten unter den Augen. Als sie sich an den geschwollenen Bauch fasst, beschleicht mich ein furchtbarer Verdacht.
»Bitte«, bettelt sie mit blauen Augen, die voller Tränen stehen. »Bitte, bringen Sie mir meine Tochter. Ich will sie sehen. Nur einmal, bevor sie weggebracht wird.«
Ich sehe Schwester Sophia an, die ganz leicht den Kopf schüttelt und damit meine Vermutung bestätigt. Das Kind ist tot.
»Sie hat geweint, und dann … hat sie aufgehört, und jetzt darf ich sie nicht mehr sehen. Wo ist sie?«
Schwester Sophia stößt mich leicht auf die Frau zu. Ich will weglaufen. Was für eine Hilfe kann ich dieser Frau schon sein, angesichts solch unermesslichen Kummers?
»Schwester, bitte«, flüstert die Frau mit blutleeren, trockenen Lippen. Ich sehe noch einmal zurück zu Schwester Sophia, bis mir klar wird, dass sie mit mir redet. Aus dem Krug auf dem Nachttisch schenke ich ihr ein Glas trübes Wasser ein und halte es ihr an den Mund.
Die Frau nimmt einen Schluck, dann dreht sie den Kopf weg. »Ich will mein Kind«, sagt sie grimmig. Das blasse Haar fällt ihr über die Schultern.
»Es tut mir leid«, sage ich. Was musste diese Frau wohl sonst noch erleiden? Warum ist sie an diesem Ort? »Es tut mir schrecklich leid, dass Sie Ihr Kind verloren haben.«
Doch damit habe ich offenbar das Falsche gesagt.
»Nein.« Ihr Blick ist auf einmal wild, und sie wirft sich auf die andere Seite des Bettes, entschlossen, aufzustehen und ihr Kind suchen zu gehen. »Nein! Sie lügen. Ich habe sie weinen gehört.«
Ich greife nach ihrem dünnen Handgelenk und ziehe sie zurück auf ihr Kissen, bevor sie sich noch aus dem Bett wirft. »Hören Sie auf. Es geht Ihnen nicht gut, Ma’am. Sie tun sich noch weh.«
Meine Worte sind ruhig, aber in mir ist alles in Aufruhr vor Entsetzen. Die Frau ist schrecklich krank. Ich kann es fühlen, jetzt da ich sie berühre. Es ist ein Wunder, dass sie und das Kind nicht beide tot sind.
»Das ist mir egal!« Sie entreißt mir ihren Arm. »Ich sterbe lieber, als den Rest meines Lebens in dieser Hölle zu verbringen. Dann bin ich wenigstens bei ihr. Sie haben gesagt, dass es ein Mädchen ist. Meine einzige Tochter!«
Ich stürze mich auf dieses bisschen an Information. »Sie haben Söhne?«
Sie nickt und wischt sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Zwei.«
»Dann sollten Sie gut auf sich achten. Sie brauchen ihre Mutter.«
Noch mehr Tränen laufen ihr übers Gesicht. »Ich werde sie nie wiedersehen. Und sie werden mich dafür verachten, dass ich sie allein gelassen habe«, wimmert sie.
»Nein. Sie sind ihre Mutter. Sie werden es verstehen, wenn sie älter sind.« Ich wünschte, ich könnte ihr versprechen, dass sie diesen Ort dereinst verlassen wird, dass sie ihre Kinder wiedersehen wird. Aber warum sollte sie mir, die ich in das Gewand der Schwesternschaft gekleidet bin, glauben? Und kann ich so etwas überhaupt versprechen?
»Was wissen Sie denn schon? Verheiratet mit dem Herrgott«, spottet sie. »Sie werden niemals Mutter sein.«
Oh. Ich wäre gerne Mutter. Eines Tages.
Ich denke an die Söhne dieser Frau. Ich stelle sie mir als zwei flachsblonde kleine Jungen vor, deren Lippen zittern, als sie vom Tod
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