Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
kümmere mich um sie«, weist Schwester Sophia uns an. »So krank wie sie ist, sollte sie wirklich keine Magie praktizieren.«
»Was hat sie denn getan?«, fragt Maura mit einem zornigen Blick auf unsere Schulleiterin. »Hope geholfen hat sie jedenfalls nicht.«
»Miss Ashby kann nichts verraten, an das sie sich nicht erinnert«, sagt Schwester Inez nur. Dann klatscht sie zweimal in die Hände, und alle versammeln sich in der Eingangshalle. »Mädchen, ich will euch nicht beunruhigen, aber vielleicht ist es sogar angebracht, beunruhigt zu sein. Das war die erste Durchsuchung der Brüder, aber es wird nicht die letzte gewesen sein. Wir müssen wachsam sein. Wenn ihr irgendwelche verbotenen Bücher besitzt, seht bitte zu, dass sie immer unter einem Zauber verborgen sind, wenn ihr sie gerade nicht benutzt. Die Schwesternschaft ist offensichtlich nicht mehr über jeden Verdacht erhaben.«
Am nächsten Morgen mache ich mich mit meinen Anatomiebüchern voller Zeichnungen des menschlichen Körpers auf den Weg in die Bibliothek. Trotz all unserer Proteste, dass unser Heilen doch Magie sei, besteht Schwester Sophia darauf, dass wir auch die Wissenschaft lernen. Unsere momentane Aufgabe besteht darin, die zweihundert seltsamen Knochen des menschlichen Körpers auswendig zu lernen. Und auch wenn ich in Gedanken gerade mehr bei der Suche der Bruderschaft nach angeblichen Seherinnen und Finns Bewerbung um eine Stelle, die ihn das Leben kosten könnte, bin, will ich vor den anderen Mädchen nicht als Dummkopf dastehen.
Als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinunterschlendre, kommt Tess mir entgegen. Ich lächle sie an, aber sie scheint vollkommen geistesabwesend zu sein. Was nicht besonders außergewöhnlich ist. Doch dann stolpert sie über den Saum ihres pfirsichfarbenen Brokatkleides, lässt ihre Bücher fallen und kann sich gerade noch rechtzeitig mit Händen und Knien abstützen, um nicht mit dem Gesicht in das Geländer zu krachen.
»Ist alles in Ordnung?«, rufe ich erschrocken aus. Tess hat schon immer dazu geneigt, irgendwo gegen zu laufen, wenn sie in Gedanken woanders war, aber sie fällt normalerweise keine Treppen hoch.
Tess sieht zu mir auf – nein, sie sieht durch mich hindurch, ihr Blick geht ins Leere.
»Tess?« Ich strecke ihr die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch sie macht keine Anstalten, sie zu nehmen.
»Mir geht’s gut«, sagt sie schließlich und steht auf.
Sie sieht aber überhaupt nicht gut aus. Sie ist blass, und ihr Lächeln ist gezwungen.
Ich hebe ihre Bücher auf – zwei dicke, abgenutzte Wälzer über die Geschichte der Hexerei. »Hast du dir wehgetan?«
»Ich sagte doch, es geht mir gut, oder? Bist du taub?« Sie schlägt sich die Hand vor den Mund.
Ich beiße mir auf die Lippe. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zusetzen.«
»Nein, schon in Ordnung.« Auf einmal mustert sie mich ganz genau. Als wollte sie mich abschätzen.
»Ich muss mit dir reden«, sagt sie schließlich. Offenbar habe ich ihre Prüfung bestanden. »Können wir in dein Zimmer gehen?«
»Natürlich.« Ich habe ein komisches Gefühl im Bauch, als wir die Treppe hinaufgehen. Warum klingt sie so unheilvoll?
Durch einen Spalt zwischen Rillas Vorhängen scheint die Sonne ins Zimmer, eine schräge Linie, die sich über die bunten Teppiche bis hin zum Spiegel über unserem Frisiertisch erstreckt. Ich winke Tess herein und schließe die Tür hinter uns.
»Rilla hat noch eine Stunde Botanik, wir sollten also ungestört sein.« Ich spüre einen leichten eifersüchtigen Stich, als ich daran denke. In meinem Stundenplan ist leider keine Zeit mehr für Botanik. Dabei kennt meine Zimmergenossin kaum den Unterschied zwischen Tulpen und Rosen oder Pfingstrosen und Ranunkeln.
Tess setzt sich mit angezogenen Beinen ans Fußende meines Bettes. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und nehme ihr gegenüber am anderen Ende Platz, die Beine lang zwischen uns ausgestreckt. Ich würde sie gerne mit Fragen überhäufen, aber ich halte mich zurück. Tess wird erst dann reden, wenn sie dazu bereit ist, und keine Sekunde früher, das weiß ich aus Erfahrung.
»Es ist nicht einfach, darüber zu reden. Versprichst du mir, dass du zuhörst und mich nicht unterbrichst?«
Ich spiele mit Mutters Ring an meinem Finger. »Versprochen.«
Tess stützt ihr spitzes Kinn auf die Knie und verzieht das Gesicht genauso, wie Vater es immer macht. »Ich habe seit einiger Zeit Vorhersehungen. Anfangs war ich mir nicht ganz sicher. Ich glaube, ich habe sie
Weitere Kostenlose Bücher