Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
schon eine ganze Weile, nur wusste ich zuerst nicht, dass es sich dabei um Vorhersehungen handelte. Wenn es passiert, bin ich ganz benommen, und manchmal weiß ich noch nicht einmal mehr, wo ich bin. Ich habe schon ein halbes Dutzend blaue Flecken, weil ich ständig irgendwo gegen laufe. Eine Zeit lang dachte ich noch, es wären Halluzinationen oder irgendein Fieber oder eine Art Anfall. Doch dann ist das, was ich gesehen habe, wirklich passiert. Das Feuer, in das die Brüder stapelweise Bücher geworfen haben. Der Umzug der Dolamores, nachdem Gabrielle verhaftet worden ist. Der kleine Adam Collier, der durchs Eis in den Teich eingebrochen ist. Unsere Katze, die in der Scheune Junge bekommen hat – drei so weiß wie Schnee und ein schwarzes. Wieso konnte ich diese Dinge sehen, bevor sie geschehen sind? Woher hätte ich das alles wissen sollen?«
Die Stimme meiner kleinen Schwester ist ganz ruhig, als sie mir erklärt, wie sie zu der logischen Schlussfolgerung gekommen ist, dass sie eine Seherin ist.
»Und das sind nur ein paar Beispiele. Ich hatte Dutzende von Vorhersehungen, und von sieben weiß ich, dass sie sich genauso ereignet haben.« Tess sieht mich mit ihren grauen Augen aufmerksam an. »Anfangs ist es nicht besonders oft passiert, aber in letzter Zeit … Ich hatte diese Woche schon zwei Vorhersehungen. Ich glaube … Cate, ich glaube, ich bin die neue Seherin.«
Ich gebe mir Mühe, mir den Schrecken nicht anmerken zu lassen. Ich darf Tess nicht verängstigen.
»Hast du es irgendjemandem erzählt?«, flüstere ich.
Tess schüttelt den Kopf. Sie trägt das Haar heute in zwei langen Zöpfen. »Nein. Ich will nicht …« Sie schluckt, und als sie weiterspricht, zittert ihre Stimme ein wenig. »Ich will nicht, dass die Leute mich für verrückt halten.«
Da ist es mit meiner Besonnenheit vorbei. Ich werfe mich über das Bett und nehme sie fest in die Arme. Tess’ Haut riecht nach Vanille und Gewürzen. »Niemand würde das denken. Du bist die vernünftigste Person, die ich kenne. Sieh doch nur, wie ruhig du bist. Ich würde mich unterm Bett verstecken, wenn ich es wäre.«
Tess vergräbt ihr Gesicht an meiner Schulter, und ich streiche ihr in einer Kreisbewegung über den Rücken, so wie ich es früher immer getan habe, wenn sie schluchzend aus einem Albtraum aufgewacht ist.
»Brenna ist verrückt geworden«, murmelt sie an meiner Halsbeuge.
Ich rücke ein Stück von ihr ab und blicke in ihr besorgtes kleines Gesicht. »Du bist aber nicht Brenna Elliott.«
»Sie ist die einzige Seherin, die ich kenne.«
Ihre Sorge zerreißt mir das Herz. Es war auch das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist. Wie lange macht sie sich schon diese Gedanken? Das ist eine zu schwere Last für sie alleine. »Brenna ging es eigentlich ganz gut, bis sie zum ersten Mal nach Harwood kam. Und das wird dir nicht passieren.«
»Wenn die Bruderschaft davon erfährt … Wenn irgendjemand sonst es herausbekommt …«
»Es wird niemand erfahren«, sage ich eindringlich. »Du bist eine Hexe, Tess, und zwar eine ziemlich mächtige. Du beherrschst Gedankenmagie. Wenn dich jemand verdächtigen sollte, weißt du, wie du dich schützen kannst.«
Sogar Mutter wäre damit einverstanden.
»Aber die Brüder bringen alle diese Mädchen bloß meinetwegen um«, flüstert Tess. »Gestern haben sie Hope mitgenommen, und … und Maura will Brenna töten. Das ist alles meine Schuld.«
»Nein.« Ich lege ihr die Hände auf die Schultern und sehe ihr in die Augen. »Es ist nicht deine Schuld. Es ist … es ist alles ziemlich schrecklich, aber das hat nichts mit dir zu tun.«
Tess spielt mit dem Goldmedaillon an ihrer Kette. »Es ist so merkwürdig, Cate. Die Vorhersehungen sind wie Erinnerungsfetzen, nur dass ich etwas sehe, was noch gar nicht geschehen ist. Ich sehe es so deutlich wie eine Fotografie. Eben gerade auf der Treppe habe ich Schwester Evelyn gesehen, wie sie auf dem Eis ausrutscht und sich den Arm bricht. Ich weiß nicht, wann es passiert, vielleicht morgen oder übermorgen oder im Februar oder erst nächstes Jahr. Aber ich weiß, dass es passieren wird.«
Schwester Evelyn unterrichtet Botanik und Geschichte, und sie ist der älteste Mensch, den ich kenne. Ihre Haut ist schrumpelig braun wie eine vertrocknete Kastanie, und ihre Haare sehen aus, als wären sie aus Baumwollfäden. Auf der Nase trägt sie eine Halbbrille. Sie sieht aus, als könnte der Wind sie einfach davonpusten, aber sie kümmert sich immer noch um ihre
Weitere Kostenlose Bücher