Tödliche Absicht
Sache wird noch schlimmer, weil wir Nendick vor Angst gelähmt vorfinden. Dann wird eine Demonstration seiner Verwundbarkeit angedroht, die seine Sorgen weiter verstärkt. Anschließend findet die angekündigte Demonstration statt, und er ist über ihre Brutalität erschüttert.«
Reacher schwieg, starrte auf den Boden.
»Sie finden, ich sei zu analytisch«, sagte Swain.
Reacher schüttelte den Kopf, sah weiter zu Boden. »Nein, ich glaube, dass ich zu wenig analytisch war. Wahrscheinlich. Denn welchen Zweck haben die Daumenabdrücke?«
»Die sind eine Herausforderung anderer Art«, antwortete Swain. »Sie sind Prahlerei. Ein Puzzle, ein höhnisches: Mich erwischt ihr nie! «
»Wie lange haben Sie mit meinem Bruder zusammengearbeitet?«
»Fünf Jahre. In Wirklichkeit habe ich für ihn gearbeitet. Mit ihm sage ich, in der Hoffnung, dadurch etwas Status zu gewinnen.«
»War er ein guter Boss?«
»Er war ein großartiger Boss«, sagte Swain. »Überhaupt ein großartiger Mensch.«
»Und er hat Diskussionsrunden veranstaltet, bei denen er zu spontanen Beobachtungen aufgefordert hat?«
Swain nickte. »Die haben Spaß gemacht. Jeder durfte alles sagen.«
»Hat er selbst mitgemacht?«
»Er war ein ausgesprochener Querdenker.«
Reacher sah auf. »Sie haben vorhin gesagt, jede einzelne Sache ziele nur darauf ab, Angst zu erzeugen, und die Daumenabdrücke seien eine Herausforderung anderer Art. Also ist doch nicht alles gleich, stimmt’s? Irgendwas ist anders.«
Swain zuckte mit den Schultern. »Auch das ließe sich umdeuten. Die Daumenabdrücke erzeugen die Angst, dass diese Typen zu clever sind, um geschnappt zu werden. Eine andere Art Angst, aber trotzdem Angst .«
Reacher schwieg eine Weile, überlegte.
»Okay, ich gebe nach«, sagte er dann. »Endlich. Ich werde jetzt wie Joe. Ich trage seine Anzüge. Ich habe mit seiner Freundin geschlafen. Ich begegne immer wieder seinen ehemaligen Kollegen. Deshalb werde ich jetzt wie er eine ungewöhnliche Querdenkerbemerkung machen.«
»Nämlich?«, fragte Neagley.
»Ich glaube, wir haben etwas übersehen«, sagte Reacher. »Sind einfach daran vorbeigeschlittert.«
»Woran?«
»Mir gehen alle möglichen verrückten Bilder durch den Kopf. Zum Beispiel, wie Stuyvesants Sekretärin am Schreibtisch arbeitet.«
»Und was tut?«
»Ich denke, wir haben die Sache mit dem Daumenabdruck genau falsch herum interpretiert. Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, sie wüssten, dass er nirgends gespeichert ist. Aber vermutlich ist diese Ansicht völlig verkehrt, und genau das Gegenteil ist richtig. Sie haben damit gerechnet, er würde gespeichert sein.«
»Warum?«
»Weil der Daumenabdruck genau denselben Zweck wie die Sache mit Nendick erfüllen sollte. Ich habe heute mit einem Uhrmacher gesprochen. Er hat mir gesagt, wo Squalin herkommt.«
»Aus Haifischlebern«, sagte Neagley.
»Und von Menschennasen«, ergänzte Reacher. »Dasselbe Zeug. Der fettige Talg neben den Nasenflügeln ist Squalin. Genau die gleiche Zusammensetzung.«
»Und?«
»Ich glaube, dass diese Männer etwas riskiert und dabei Pech gehabt haben. Nehmen wir mal an, du suchst dir irgendeinen Mann von sechzig oder siebzig Jahren aus. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihm wenigstens einmal in seinem Leben die Fingerabdrücke abgenommen werden?«
»Ziemlich hoch«, sagte Neagley. »Allen Einwanderern werden die Fingerabdrücke abgenommen. Ist er geborener Amerikaner, wäre er für Korea oder Vietnam gemustert worden und hätte seine Fingerabdrücke abgeben müssen, selbst wenn er nie dort gedient hätte. Und sie wären ihm abgenommen worden, wenn er je verhaftet worden oder im Staatsdienst beschäftigt gewesen wäre.«
»Oder bei manchen Privatfirmen«, fügte Swain hinzu. »Viele verlangen Fingerabdrücke. Banken, Warenhäuser, solche Leute.«
»Okay«, sagte Reacher, »meine Überlegung lautet folgendermaßen: Ich vermute, dass der Daumenabdruck von keinem der Kerle selbst stammt, sondern von jemand anderem. Von irgendeinem unbeteiligten Außenstehenden, den sie willkürlich ausgewählt haben. Und er sollte uns direkt zu diesem jemand führen.«
Neagley starrte Reacher an.
»Wozu?«, fragte sie.
»Damit wir einen weiteren Nendick finden würden«, erklärte er. »Der Daumenabdruck war auf jeder Mitteilung, und der Kerl, von dem er stammte, war eine Message, genau wie Swain von Nendick behauptet. Wir sollten dem Daumenabdruck nachgehen, den Mann aufspüren und eine exakte Kopie der
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