Tödliche Absicht
Edgerton verlief. Beide Straßen waren auf der Karte als Landstraßen eingezeichnet. Reacher und Neagley waren bereits ein Stück der 387 gefahren und kannten sie als recht gute Asphaltstraße. Den linken Rand des Quadrats bildete die I-25, die aus Montana im Norden kommend an Edgerton vorbei nach Casper hinunterführte. Die Grundlinie des Quadrats stellte ebenfalls die I-25 dar, die von Casper aus bis Douglas nach Osten verlief, bevor sie wieder nach Süden abbog und auf Cheyenne zuhielt. Das so entstandene Quadrat wurde durch die kleine Straße, die sich in Nord-Süd-Richtung durch Grace zog, in zwei ungefähr gleich große Rechtecke geteilt. Diese Straße war auf der Karte als dünne gestrichelte Linie eingetragen. In der Legende am Kartenrand war dies das Symbol für eine unbefestigte Nebenstraße.
»Was denkst du?«, fragte Neagley.
Reacher fuhr das Quadrat mit dem Zeigefinger nach. Vergrößerte den Radius nach allen Himmelsrichtungen auf hundert Meilen. »Ich denke, dass in der gesamten Geschichte des amerikanischen Westens noch niemals jemand zufällig durch Grace gefahren ist. Wozu denn auch? Jede vernünftig geplante Route von Süden nach Norden oder Osten nach Westen würde daran vorbeiführen. Nehmen wir mal an, man wollte von Casper nach Wright. Von links unten nach rechts oben. Man würde auf der I-25 nach Douglas und von dort auf der Route 59 nach Wright fahren. Über Grace zu fahren bietet keine Vorteile. Die Strecke ist nicht kürzer. Die Fahrt dauert länger, weil diese Straße unbefestigt ist. Und würde sie einem überhaupt auffallen? Weißt du noch, wie die Abzweigung nördlich von hier ausgesehen hat? Ich hätte nie geglaubt, dass das die Straße nach Grace sein könnte.«
»Und wir haben eine Wanderkarte«, fügte Neagley hinzu. »Auf einer normalen Straßenkarte ist sie vielleicht gar nicht eingezeichnet.«
»Also ist dieser Geländewagen aus einem bestimmten Grund durch Grace gefahren«, stellte Reacher fest. »Nicht zufällig, nicht nur so zum Spaß.«
»Das waren die Männer«, sagte Neagley.
Reacher nickte. »Sie waren auf Erkundungsfahrt.«
»Das glaube ich auch«, meinte Neagley. »Aber hat ihnen gefallen, was sie gesehen haben?«
Reacher schloss die Augen . Was haben sie gesehen? Ein winziges Nest, in dem es keine sicheren Verstecke gab. Einen nur fünfzig Meter von der Kirche entfernten Hubschrauberlandeplatz. Und auf der Straße davor groß und auffällig schon jetzt einen schwarzen Wagen, der ein Dienstauto des Secret Service hätte sein können. Dem Kennzeichen nach aus Colorado, und in Denver befand sich vermutlich die nächste Secret-Service-Außenstelle.
»Ich glaube nicht, dass sie gejubelt haben«, sagte er.
»Geben sie also auf? Oder kommen sie zurück?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszukriegen«, sagte Reacher. »Abwarten, was passiert.«
Sie warteten. Die Sonne überschritt ihren Zenit, und die Temperatur fiel. Die Kirchturmuhr tickte in jeder Stunde dreitausendsechshundertmal. Neagley ging weg und besorgte aus dem Lebensmittelgeschäft etwas zu essen. Dann dachten sie sich ein neues Beobachtungsverfahren aus, das darauf basierte, dass kein Fahrzeug die im Norden und Süden überschaubare Strecke in weniger als zirka acht Minuten zurücklegen konnte. Also machten sie es sich bequem, richteten sich alle fünf Minuten kniend auf, rutschten zu ihren Schalllöchern hinüber und suchten ihren Abschnitt ab. Doch ihre Hoffnung wurde stets enttäuscht. Sie machten Dehnübungen und Liegestütze, um locker zu bleiben und sich aufzuwärmen. Die Reservemunition in ihren Taschen klimperte dabei. Kampfgeklirr, sagte Neagley. Zwischendurch drückte Reacher sein Gesicht an die Schallbretter und starrte auf das Wetter im Westen. Es hatte sich nicht verändert.
»Sie kommen nicht zurück«, meinte Neagley. »Um es hier zu versuchen, müssten sie geisteskrank sein.«
»Sie sind geisteskrank, finde ich«, sagte Reacher.
Kurz vor sechzehn Uhr hatte Reacher endgültig genug. Er benützte die Klinge seines Messers, um eines der Schallbretter aus seiner Halterung zu lösen. Es war ein einfaches, ungefähr eineinhalb Meter langes, fünfzehn Zentimeter breites und zweieinhalb Zentimeter dickes Brett. Er hielt es wie einen Speer vor sich, kroch hinüber und steckte es in das Uhrwerk. Das Holz geriet zwischen die Zahnräder und brachte die Uhr zum Stehen. Er zog das Brett wieder heraus, kroch zurück und schob es in die Halterung. Die plötzliche Stille war
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