Tödliche Aktien
verlassen hatte. Von früheren Zwischenfällen wußte ich, wie schmerzlich diese Erinnerung für sie war. Doch noch nie hatte sich ihre Wut unmittelbar gegen mich gerichtet. Immer war sie in ihrem Unglück ansprechbar für mich geblieben, so daß ich ihr hatte helfen können. Das war eine ganz wichtige Basis für unsere Beziehung gewesen.
Nun hatte sie ihre Wut an mir ausgelassen. Hemmungslos. Daran war ich nicht gewöhnt.
Was hatte ich ihr getan? Was hatte sich zwischen uns verändert?
EINUNDZWANZIG
Wir saßen in einem großen Konferenzzimmer des Büros von Burns Stephens in Edinburgh. Holzpaneele an den Wänden und Kronleuchter an der Decke. Von der Wand blickte ein ehrwürdiger viktorianischer Advokat mißbilligend auf die kleine Gruppe herab, die sich in dem Raum versammelt hatte. Obwohl die Sozietät Burns Stephens noch keine zehn Jahre existierte, hatte sie sich ein eindrucksvolles Büro in diesem georgianischen Gebäude zugelegt, mitten in Drunheugh Gardens, keine zehn Minuten vom Charlotte Square entfernt, dem eleganten Finanzzentrum der Stadt.
Die Firmenleitung nahm an der einen Seite eines langen Tisches Platz. In der Mitte saß Walter Sorenson. Zu seiner Rechten ich und neben mir Rachel. Auf die linke Seite hatte man David Baker gesetzt und dann Nigel Young, den urbanen Banker, der sich in dieser Umgebung sichtlich wohl fühlte. Es folgten Willie und Graham Stephens, FairSystems’ Anwalt. Beide hatten sie einen Stoß Papiere vor sich aufgestapelt.
Rachel hatte den Bogen vor sich liegen, auf dem ich die Aktionäre in die Tabelle »Verkaufen« und »Nicht verkaufen« eingeordnet hatte. Fünfzig Prozent brauchten wir, um zu gewinnen. Nach unserer Rechnung blieb ich mit dreiundfünfzig Prozent gegen siebenundvierzig Prozent auf meinem Posten, wenn mein Vater und Karen für mich stimmten. Aber dessen war ich mir ganz und gar nicht sicher. Wieder und wieder hatte ich mein letztes Gespräch mit Dad Revue passieren lassen, und jedesmal war ich zu dem Schluß gekommen, daß er sich gegen mich entscheiden würde.
Am schlimmsten war jedoch, daß ich nicht mehr sicher sein konnte, wie Karen stimmen würde. Als ich sie letzte Woche gefragt hatte, hatte sie ganz klar gesagt, daß sie mich unterstützen würde. Aber vielleicht hatte sich das ja übers Wochenende geändert? Ich wußte es einfach nicht.
Fuchsteufelswild war ich am Montag zu Rachel reingestürmt.
»Was sollte diese lächerliche Posse mit der Leber?« fragte ich. »Die war doch wohl kaum dazu angetan, uns Karens Unterstützung zu sichern!«
»Ich wollte ihr nur zeigen, was die Virtuelle Realität leisten kann«, antwortete Rachel mit unschuldigem Gesicht.
Ich schnaubte verächtlich. »Dämliche Eifersucht war es.«
»Ach ja, Eifersucht?« Übertriebenes Erstaunen malte sich auf Rachels Gesicht. »Und warum, bitte schön, sollte ich eifersüchtig sein? Warum sollte es mir das geringste ausmachen, wenn du mit einer ahnungslosen Anlageberaterin zusammen bist?«
»Ach, hör doch mit diesen Spielchen auf!« knurrte ich erbost. »Wahrscheinlich hast du ihr FairSystems für immer verleidet.«
»Ich dachte, du könntest dich felsenfest auf sie verlassen«, sagte Rachel.
»Jetzt jedenfalls nicht mehr«, sagte ich und ließ sie allein.
Und nun saßen wir hier, rechneten knapp fünf Minuten vor der Abstimmung unsere Chancen zusammen, und ich konnte sehen, daß sich Rachel gar nicht mehr so sicher war, vernünftig gehandelt zu haben. Sie biß sich auf die Unterlippe, blickte finster auf das vor ihr liegende Blatt Papier und zeichnete einen Kreis nach dem anderen um Karens Namen.
»Irgendeine Chance, daß einige der Kleinaktionäre nicht wählen? Dann kommen wir vielleicht knapp durch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das bezweifel’ ich sehr stark. Scott Wagner scheint diese Aktien völlig zu kontrollieren. Ich bin sicher, er kann sie alle überreden, in seinem Sinne zu stimmen.«
Unter den wenigen Anwesenden, die die vier Stuhlreihen kaum füllten, sah ich Wagner und fing seinen Blick auf. Er lächelte und winkte mir zu. Mist! Er sah so verdammt zuversichtlich aus. Ich war mir sicherer denn je, daß er die gesamten Stimmen aus dem Streubesitz hinter sich hatte.
Es war schon bemerkenswert, daß Wagner sich höchstpersönlich von San Francisco herbemüht hatte. Sicher brauchte man einen Vertreter der Firma hier, der von der Stimmrechtsvollmacht Gebrauch machte und das Geschehen beobachtete, aber deshalb mußte doch nicht der Spitzenmann selbst
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