Toedliche Blumen
sicher.
Erika Ljung war ebenfalls in den Dienst beordert worden. Kurz vor Mitternacht hatte man sie gebeten, zu Lina nach Hause zu fahren, denn Linas Familie spielte offensichtlich eine große Rolle in Viktorias Leben. Sie wohnten in einem typischen Eigenheim aus den Vierzigerjahren. Das Haus war klein, aber es lag in einer schönen Umgebung mit gepflegten, eingewachsenen Gärten und relativ zentral. Im Moment konnte Erika allerdings nicht viel vom Garten erkennen. Es war zwar sternenklar, aber dunkel und kühl, und sie hatte es eilig.
Sie fröstelte, als sie an diesem späten Abend, der eigentlich schon Nacht war, an der Tür klingelte. Auf der Straße vor dem Haus stand ein Ford Escort. Ein nahezu kugelrunder Mann öffnete. Sie trat ein, streifte sich in dem engen Flur die Schuhe von den Füßen, woraufhin ihre nicht gerade kleinen Einundvierziger in einem Gewühl von Schuhen auf dem Boden verschwanden. Meistenteils handelte es sich um Kinderschuhe. Genauer gesagt, um die gesammelten Exemplare von vier Kindern, wie man sie informierte.
Sowohl die Mutter als auch der Vater waren noch wach gewesen, wie auch Lina, ein dickliches Mädchen, die für ihr Alter ziemlich groß zu sein schien. Sie war außerdem recht aufgeweckt, schien jedoch angesichts der Situation eher ängstlich und traurig. Weder ihr Vater noch ihre Mutter waren von besonders zierlicher Statur. Außerdem vererbte sich Korpulenz, das war allgemein bekannt.
Das Erste, was Erika auffiel, waren die große und ernst gemeinte Hilfsbereitschaft sowie die aufrichtige Betroffenheit der Eltern.
»Wir können sowieso nicht schlafen«, erklärte der Vater. »Wenn Sie Hilfe brauchen, bin ich dabei. Ich nehme mir gern einen Tag frei. Viktoria gehört so gut wie zu unserer Familie …«
Seine Stimme versagte, die Augen waren aufgrund seiner Unruhe rot gerändert. Er informierte Erika darüber, dass er Maurer sei und eine eigene Firma besaß.
»Meine Frau ist mit der Kleinsten noch zu Hause«, fügte er hinzu, und Erika bedankte sich für sein Angebot zur Mithilfe. Er wurde gebraucht.
»Es ist erträglicher, etwas zu tun, als nur dazusitzen und zu warten«, unterstrich er seine Überzeugung.
»Sie kennen Viktoria also gut?«, lenkte Erika das Gespräch auf das Mädchen.
»Sie ist fast jeden Tag hier«, erläuterte die füllige Mutter, deren Haarmähne gigantisch war. Dick und weizenblond fielen ihr die Strähnen wie einer Waldhexe über die Schultern bis hin zur Taille. Sie bat Erika, am Küchentisch Platz zu nehmen.
Sie blinzelte mit den Augen, als leide sie unter einem unkontrollierten Muskelzucken, doch es handelte sich wahrscheinlich nur um ein Zeichen ihrer Nervosität. Sie zog die rote Strickjacke enger um ihre Schultern. Auf dem T-Shirt darunter kletterte ein Männchen mit schwarzem Hut eine Leiter hinauf.
»Gestern war sie jedoch nicht hier. Lina musste direkt nach der Schule zum Zahnarzt«, klärte sie die Mutter auf.
»Stimmt das?«, fragte Erika an Lina gewandt, um sie in das Gespräch mit einzubeziehen.
»Ja«, hörte sie Lina aus ihrem kleinen Kirschmund zwischen runden und rosigen Ballonwangen antworten.
»Kannst du mir sagen, wann du sie zuletzt gesehen hast? Ich meine zuallerletzt. Wo wart ihr da?«
»Das war direkt vor dem Schulgebäude. Sie hatte ihr Fahrrad nicht dabei, weil es kaputt ist. Wir gingen zusammen zum Fahrradständer. Ich bin auf mein Fahrrad gesprungen, weil ich es ja eilig hatte … und dann haben wir nur tschüss gesagt … und …«
»Und dann bist du weggefahren?«
»Ja.«
»Hast du noch sehen können, was Viktoria dann tat? In welche Richtung sie ging?«
»Nein, ich war etwas spät dran. Musste um drei beim Zahnarzt sein.«
»Du hast dich also nicht umgeschaut?«
»Nein.«
»Das kann ich gut verstehen. Wenn man es eilig hat und schnell fährt, muss man sich auf den Verkehr konzentrieren und kann sich nicht unnötig umschauen.«
Das Mädchen schien beruhigt zu sein.
»Du sagtest, dass du um drei Uhr beim Zahnarzt sein musstest?«
»Ja. Und ich bin auch nicht zu spät gekommen. War genau pünktlich … na ja, fast.«
»Dann kommt es also ungefähr hin, wenn ich sage, dass ihr euch zirka um Viertel vor drei am Fahrradständer vor der Schule getrennt habt?«
»Ja, das kommt hin.«
»Wenn du nun schätzen solltest, Lina«, begann Erika und richtete ihre großen, samtweichen Augen auf das Mädchen, »was glaubst du, wo sie hingegangen sein könnte?«
Lina schaute auf das lindenblütenfarbene Wachstuch
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