Toedliche Blumen
auf dem Tisch. Sie saß mit ihrem türkisfarbenen Pyjama, dessen Hose sich über den kräftigen Oberschenkeln spannte, auf einem gewöhnlichen Klappstuhl. Der Tisch war lang, aber auffallend schmal, höchstwahrscheinlich damit er überhaupt in die Küche passte. Auf der langen Seite zur Wand hin stand ein altes Küchensofa mit abgeblätterter blauer Farbe.
Das Mädchen schwieg.
»Du hast keine Ahnung, in welche Richtung sie gegangen sein könnte? Dann brauchst du auch nicht zu antworten«, sagte Erika sanft.
»Ich weiß nicht«, begann Lina daraufhin mit leiser, fast flüsternder Stimme. »Vielleicht ist sie direkt nach Hause gegangen … vielleicht aber auch in die Bibliothek.«
»Geht sie manchmal dorthin?«
»Ja. Manchmal gehen wir auch gemeinsam hin. Man kann Musik hören und so. Außerdem sind sie nett dort. Und sie haben gute Bücher.«
Erika hatte noch nichts in ihr Berichtsformular eingetragen, begann aber jetzt, die Informationen zu notieren, und las sie daraufhin noch einmal durch. Die Eltern hielten sich im Hintergrund. In der Küche herrschte eine Stimmung des Zusammenhalts und der Geborgenheit. Man schien in diesem Haushalt keinen Wert darauf zu legen, unnötig Fehler oder Mängel hervorzuheben.
»Du, Lina«, fragte Erika weiter, »war Viktoria heute in der Schule irgendwie anders als sonst? Hat sie vielleicht mit einer Freundin geredet oder gespielt, mit der sie sonst nicht zusammen ist?«
Das Mädchen verschränkte die drallen Hände vor sich auf dem Tisch und legte ihren Kopf darauf.
Es war bereits recht spät für eine Elfjährige.
»Nein. Da war nichts«, antwortete Lina dann. »Sie war nur etwas müde, vielleicht.«
»Inwiefern?«
»Ich habe mir nicht einmal die Mühe gemacht, ihr mit den Matheaufgaben zu helfen«, erklärte das Mädchen und hob den Kopf.
»Tust du das denn sonst?«
Sie nickte.
»Viktoria hat ja im Krankenhaus gelegen. Sie musste beinahe operiert werden«, erklärte Lina, und ihr Blick wurde auf einmal ganz ernst, die Augen groß wie Untertassen. »Deshalb war sie noch nicht wieder ganz fit«, erklärte sie mit einer Stimme, die sowohl ängstlich dünn als auch ein wenig altklug klang.
NEUNTES KAPITEL
Samstag, 13. April
E s war so ein Tag, an dem man schon beim Aufwachen nicht genau wusste, was er einem bringen würde. In keinerlei Hinsicht.
Peter Berg lag in seinem Bett und schaute aus dem Fenster, betrachtete den wankelmütigen Himmel und die Wolken, die die Sonne verdeckten. Er fühlte sich schwer im Kopf. Unausgeschlafen. Auf dem Wecker, der ihn gerade mit seinem unangenehmen Klingeln geweckt hatte, konnte er erkennen, dass es Viertel nach zehn war. Er hatte unmittelbar das Rollo hochgezogen, das nach oben geschnellt war, sodass der Bommel immer noch in der Luft schwang. Er fühlte sich ungefähr so wie der Himmel, bewölkt.
Eigentlich fühlte er sich recht oft so, war ihm in letzter Zeit aufgefallen. Erwachte oftmals traurig und müde, auch wenn er ausgeschlafen war. Diese Unlust überfiel ihn, genauer gesagt, an fast jedem Morgen, legte sich jedoch zum Glück meistens später am Tag wieder. Er fragte sich, wo sie wohl herrührte. Vielleicht war sie ganz einfach angeboren. Sobald er sich aufgerafft und gefrühstückt, sich angezogen und auf den Weg gemacht hatte, schien es, als ginge alles etwas leichter.
Während er im Bett lag und sich nicht überwinden konnte, endgültig aufzustehen, überlegte er, wo in seinem Körper dieses Gefühl, das sich wie eine bleierne Schwere anfühlte, eigentlich seinen Ursprung hatte. Er konnte sich an das Auftreten dieses Phänomens in schwächerer oder stärkerer Ausprägung zurückerinnern, seitdem er ein Teenager war. Vielleicht hatte er sogar schon früher darunter gelitten.
Jedenfalls saß es irgendwo in der Nähe des Zwerchfells. Direkt unter dem Herzen.
Er legte seine Handfläche auf die Stelle und rieb sie mit dem Handballen, doch es machte keinen Unterschied. Er wusste, dass es nichts bewirken würde.
War es die Einsamkeit, die an ihm nagte? Diese eiskalte Einsamkeit. Nicht die selbst gewählte, sondern die aufgezwungene. Die angeborene.
Heute kam noch erschwerend hinzu, dass er müde war. Er war erst um drei Uhr morgens ins Bett gekommen. Man hatte die Suchaktion in seiner Gruppe nach einigen Stunden abgeblasen, und alle waren nach Hause geschickt worden, um sich auszuruhen und später wieder fit zu sein, während andere sie ablösten. Die Suchaktion an sich wurde ohne Unterbrechung fortgesetzt.
Heute jedoch
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