Toedliche Blumen
vergangener Jahre regten jedes Mal ihre Fantasie an.
Ein ernst dreinblickender kleiner Junge mit runden Wangen saß in kurzen, sommerlichen Strampelhosen auf einem Schaffell. Wie das gejuckt haben musste! Der Junge kam in die Schule, wurde konfirmiert und machte schließlich das Abitur. Auf einem anderen Bild hielt ein blond gelockter Mann mit einer Pfeife in der Hand den kleinen Jungen stolz und freimütig an der Hand. Sie standen irgendwo draußen, vielleicht in einem Park, im Hintergrund konnte man eine Bank erkennen. Der Mann zeigte ein großzügiges Lächeln, besaß ein schlankes Äußeres und trug ein weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, sodass seine kräftigen Unterarme zu sehen waren. Die weiten Hosenbeine verdeckten mit ihrem großen Schlag fast die gesamten Schuhe. Die Hose wurde von einem Paar breiter Hosenträger gehalten. Das Bild war 1956 aufgenommen. Das musste der stattliche und stolze Vater sein. Louise blätterte weiter, um zu sehen, ob er noch einmal auftauchte. Den Nachbarn und anderen Befragten zufolge hatte Doris Västlund mit keinem Mann zusammengelebt. Jedenfalls nicht in der letzten Zeit. Auf den folgenden Seiten des Albums fehlte er plötzlich. Er muss ziemlich früh aus dem Leben des Jungen verschwunden sein, nur ein paar Jahre nachdem das fröhliche Bild von Vater und Sohn aufgenommen worden war.
Ein dünnes rotes Fotoalbum stand etwas abseits. Die Bilder waren schwarzweiß und so großformatig, dass jedes Foto eine ganze Seite beanspruchte. Es handelte sich um Atelierbilder von Doris Västlund mit variierendem, jeweils zur Kleidung passendem Hintergrund. Bademode, Skianzug oder elegant geschnittener Wollmantel. Sie hatte also als Modell gearbeitet. Ihr Lächeln strahlte dem Betrachter unverdrossen von Seite zu Seite entgegen. Louise fand es schließlich ziemlich ermüdend.
Ansonsten musste es ganz nett sein, so hübsche Fotos von sich selbst zu besitzen. Louise besaß keine, die diesen auch nur annähernd glichen, aber ihr Aussehen zog Fotografen auch nicht gerade an. Auch wenn sie nicht schlecht aussah. Jedenfalls tat sie ihr Bestes. Im Moment jedoch wirkten ihre Gesichtszüge eher müde und waren von scharfen Linien durchzogen. Denn sie schlief schlecht. Aber sie spürte, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie wieder aufblühte.
Sie schlug das rote Album zu und stellte es zurück ins Regal.
Irgendwie fand sie es auch ein wenig deprimierend, sich so deutlich vor Augen zu führen, was die Zeit aus einem Menschen machte. Zu Hause vermied Louise es seit einiger Zeit, sich ihre eigenen alten Alben anzusehen. Früher hatte sie oft mit den Mädchen zusammengesessen und darin geblättert. Sie hatten auf die Bilder gezeigt, und sie selbst hatte erzählt, wie es war, als sie klein waren. Zum Beispiel, als sie als winzige Bündel gerade von der Entbindungsstation kamen oder wie zufrieden sie im Kinderwagen schliefen oder als Janos ihnen das Schwimmen beibrachte. Doch je älter sie wurde, desto schmerzhafter holte sie jedes Mal das Gefühl von Vergänglichkeit ein, wenn sie Bilder von Weihnachtsabenden, Geburtstagen und Schuljahresabschlüssen der Mädchen, gemeinsamen Fernsehabenden und Skiausflügen betrachtete. Es war beeindruckend, wie die Kinder sich entwickelten, aber gleichzeitig hatte es etwas Wehmütiges, mit der unausweichlichen Tatsache im Leben, dem Tod, konfrontiert zu werden.
Angesichts dieser Gedanken kam ihr die Frage in den Sinn, wie Janos und sie nun mit ihren gemeinsamen Fotoalben verfahren sollten. Man konnte sie ja nicht teilen.
Verdammt!
Mit den Fotos anderer Leute verhielt es sich natürlich völlig anders. Neugierig griff sie nach dem nächsten Ordner mit verblichenen Farbfotografien, blätterte ihn schnell durch und hielt inne, als sie einige Fotos von einem anderen Mann entdeckte, der bedeutend kräftiger war als der vorherige. Doris Västlund saß mit einem strahlenden Lächeln neben ihm auf dem Sofa. Zwei Kinder im Alter von ungefähr fünf und zehn Jahren standen daneben. Der Mann und die Kinder, zwei Mädchen, tauchten auf einer Reihe von weiteren Bildern erneut auf. Die Mädchen wuchsen, wurden Teenager und dann hörten die Bilder von diesen vermeintlichen Verwandten, Freunden oder dem Mann mit Kindern, mit dem Doris Västlund zusammen abgelichtet worden war und vielleicht sogar eine Partnerschaft geführt hatte, abrupt auf. Sie würden es herausfinden müssen, beschloss Louise und legte das Album zur Seite, sodass sie die Bilder
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