Tödliche Ewigkeit
Gedanken versunken, schlief er schließlich ein. Geweckt wurde er von der Glocke, die zum Abendessen rief. Er verließ sein Zimmer und machte sich auf den Weg in den Speisesaal. Wie jeden Abend hatte sich am Eingang eine Schlange gebildet, denn laut Vorschrift hatte sich jeder Patient an der Theke des Pflegepersonals ein Glas Wasser und seine Medikamente abzuholen, die er gleich vor Ort einnehmen musste. Mulligan schluckte die ihm gereichten Pillen und steuerte auf einen unbesetzten Tisch zu. Kaum hatte er Platz genommen, erschien auch schon besagter Colbert und bat sehr höflich, sich zu ihm setzen zu dürfen. Es folgte der Prediger, den Colbert gleichsam unterwürfig anblickte. Mulligan bedeutete beiden, Platz zu nehmen.
»Haben Sie immer noch den Wunsch, mir die Kehle durchzuschneiden?«
»Oh, nein!«
Jetzt ergriff der Prediger mit einem milden Lächeln das Wort.
»Ich habe den Herrn überzeugen können, dass dies ein Fehler wäre.«
»Das freut mich aber«, brummte Jeff und kaute seine geraspelten Karotten.
»Mir ist klar geworden, dass ich nicht mehr auf diese Stimme hören darf. Es war die eines Dämons, den mein neuer Meister vertrieben hat.«
»Ein neuer Meister?«
»Mr. Colbert sollte mich vielmehr seinen Diener nennen«, erklärte der Prediger. »Betrachten Sie mich ebenfalls als den Ihren.«
»Geben Sie mir bitte das Salz.«
»Gern. Als Priester der Heiligen Kirche der Verzweiflung stehe ich im Dienst einer jeden Kreatur, die in der Hölle leidet.«
»Dann müssten Sie eigentlich eher dort unten Ihres Amtes walten«, bemerkte Jeff.
»Gehören Sie etwa zu jenen Menschen, die verkennen, dass wir in der Hölle sind ?«
»Ich hatte dieses Detail übersehen.«
»Öffnen Sie die Augen, Mr. Mulligan.«
Woher kennt er meinen Namen, fragte sich der Angesprochene.
»Wie nennen Sie eine Welt«, fuhr der andere fort, »bevölkert von blassen Schatten, die sich in unermesslicher Einsamkeit begegnen, jeder eingeschlossen im Trugbild seiner Schimären und doch überzeugt, in Beziehungen mit anderen zu leben, während es sich nur um Projektionen handelt, mit denen er sich der Vereinsamung zu entziehen versucht. Tritt jedoch die Wahrheit ans Licht, wird die Verzweiflung nur noch umso größer. Eine Welt, in der die Menschen nur von dem einzigen Wunsch beseelt sind, ihre Existenz zu vergessen, in der sie absurde Ziele verfolgen, die sie gegeneinander aufhetzen. In der die Überlebensstrategien jedes Einzelnen Kriege auslösen – jeder gegen jeden – und das universelle Elend ständig zunimmt. Eine Welt, in der das Viertel der Menschheit, das nicht verhungert, sich grämt, weil es nicht in der Lage ist, seinen tödlichen Fresstrieb zu beherrschen, eine Welt obszöner Lauheit und Gleichgültigkeit, in der wir alle übersättigt von Gelüsten und unseres Verlangens beraubt umherirren, eine Welt …«
»Genug, Prediger, genug! Sie haben mich überzeugt! Wir leben in der Hölle und ich bislang in der Illusion.«
»Seien Sie unbesorgt, Letzteres gilt für die Mehrzahl der Menschen. Und wissen Sie warum? Weil es sie erleichtert. Zunächst die Vorstellung, dass es noch Schlimmeres geben kann. Dann die Tatsache, sich etwas hienieden zu erhoffen. Und genau darin ruht die gute Nachricht, die ich zu verkünden habe …«
»Endlich eine gute Nachricht! Und worin besteht sie?«
»Es gibt nicht die geringste Hoffnung.«
Jeff hätte sich fast verschluckt.
»Im Namen der gesamten Menschheit, Prediger: danke!«
»Sie müssten mehr Respekt an den Tag legen«, sagte Colbert streng.
»Lassen Sie nur, mein Freund«, ergriff jetzt der Prediger erneut das Wort. »Dieser Mann ist voll guten Willens. Ich spüre, dass er zuhört. Bedenken Sie dieses, Mr. Mulligan. Woran leiden wir?«
»Nun …«
»Ich werde es Ihnen sagen. An der Angst. Und warum haben wir Angst?«
»Sie werden es mir sagen.«
»Genau: wegen der Hoffnung. Wenn uns bewusst würde, dass von dieser Welt nichts zu erwarten ist, dann wären wir befreit von der Angst und würden gelassen auf das Ende unseres Elends warten.«
»Denn es wird ein Ende haben?«
»Natürlich. Die Hölle ist nicht ewig. Wie hätte ein gerechter und gütiger Gott eine solche Abscheulichkeit ersinnen können? Das Grauen ist von kurzer Dauer. Der Tod wird uns davon befreien.«
»Wenn es so ist, was hält uns ab, es zu verkürzen? Warum begehen wir dann nicht Selbstmord?«
Der Prediger schloss für wenige Sekunden die Augen.
»Ach, das ist eine großartige Frage,
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