Tödliche Feindschaft
Michels Lippen:
»Oh, dann kann ich mir viel Sucherei ersparen. Freut mich, Euch kennengelernt zu haben.« »Ich will nicht gerade sagen, daß die Freude auch auf meiner Seite ist«, meinte Oberst Köcknitz sarkastisch, »aber immerhin, nach dem, was man von Euch hört, müßt Ihr ein sehr interessanter Mann sein. Und da ich sowieso schlecht schlafen kann, mache ich Euch den Vorschlag, mich zu begleiten.« »Wohin?« »In meine Wohnung. Wohin sonst?«
»Ich wäre mehr für einen neutralen Ort«, warf Michel mißtrauisch ein. »Herr«, brauste der Oberst auf, »wollt Ihr mich beleidigen?«
»Das liegt mir gänzlich fern. Nur, müßt Ihr wissen, ich habe so meine Erfahrungen. Deswegen bin ich vorsichtig.«
»Sapperment, ich gebe Euch mein Ehrenwort als Offizier, daß Ihr bei mir so sicher seid wie in
Abrahams Schoß.«
Michel blickte den Oberst forschend an. Dann nickte er.
»Köcknitz«, sagte er sinnend, »das klingt nach Preußen, nach der Mark Brandenburg. Ich nehme
an, daß Ihr aus der Streusandbüchse stammt?«
»Ja, aber was soll das?«
»Nun, ich habe noch nie gehört, daß ein brandenburgischer Edelmann sein Wort gebrochen hat.
Eure Heimat spricht für Euch. Ich gehe mit.«
Der Oberst schüttelte den Kopf.
»Ich bewundere mich selbst«, sagte er nicht ohne Humor, »daß ich Euch noch nicht fortgejagt habe. Ihr seid ein reichlich anmaßender Bursche.«
»Das kommt Euch nur so vor«, erwiderte Michel im gleichen Ton. »Draußen, in der Welt, gewöhnt man es sich an, die Menschen, mit denen man umgeht, nach ihren Taten zu beurteilen und nicht nach ihrem Stand, Beruf oder Offizierspatent.«
Sie waren unterdessen weitergegangen. Von Sankt Martin verkündeten die Glocken das Ende der ersten halben Mitternachtsstunde. Hier und da lichtete sich der Himmel ein wenig. Die Wolken schoben sich zur Seite, und silberne Sterne blinzelten den beiden nächtlichen Spaziergängern zu. Nach geraumer Zeit standen sie vor einem schönen Haus. »So«, sagte Oberst Köcknitz, »hier wohne ich. Tretet ein.«
Ein Bursche, verschlafen, aber dennoch dienstbeflissen, sprang herzu, um seinem Herrn Degen und Wehrgehenk abzunehmen. Dann führte der Oberst seinen Gast in einen gemütlichen, aber ohne Luxus eingerichteten Raum. »Nehmt Platz«, sagte er und deutete auf einen tiefen Sessel. »Gestattet Ihr, daß ich rauche?« fragte Michel.
»Ach ja, Ihr seid ja der Sohn dieses erstklassigen Tabakmischers.« Er wandte sich zur Tür und rief: »Philipp, bring mir meine Pfeife.«
Bald kräuselte der Rauch in kleinen duftigen Wirbeln zur Decke. Die Fenster des Zimmers waren geöffnet und gewährten der milden, sommerlichen Nachtluft ungehindert Zutritt. Man hätte das nächtliche Beisammensein fast gemütlich nennen können.»Nun erzählt, was Ihr von Oberst Köcknitz wolltet.« Michel nickte und begann:
»Ich habe einen Vetter. Der sitzt im Gefängnis in der Zelle neben der, aus der ich vorhin ausgebrochen bin. Und der größte Lump von ganz Hessen hat ihn dort hingebracht.«
»Na, na —, na, na! Ihr seid schnell mit Werturteilen bei der Hand. Ich weiß zum Beispiel, daß er
auf Veranlassung des Grafen von Eberstein eingesperrt wurde.«
»Eben«, sagte Michel, »der.«
»Ihr müßt das schon etwas näher erklären.«
Michel nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife und lehnte sich im Sessel zurück. Dann fuhr er fort: »Da ich einmal bei Euch bin, in der Höhle des Löwen sozusagen, will ich Euch alles der Reihe nach erzählen. Vor zehn Jahren fing es an. Damals war ich ein Opfer Ebersteins. Langweile ich Euch auch nicht?« »Keineswegs. Ich bin nicht müde. Fangt an.«
Stunde um Stunde verrann. Die Pfeifen qualmten. Der Oberst unterbrach die Erzählung Michels nur einmal, um zu fragen, ob er Appetit auf ein Glas Wein habe. Philipp, der Bursche, brachte die Flasche. Er schien daran gewöhnt zu sein, daß sein Herr spät schlafen ging. Jedenfalls war er immer zur Hand, wenn der Oberst ihn brauchte.
Es wurde vier Uhr und fünf Uhr. Die lebhaften Augen des Grafen Köcknitz streiften immer wieder das Gesicht des Erzählers. Fast unglaublich klangen die vielen Abenteuer in den Ohren des alten Offiziers. Da saß ihm einer gegenüber, der all das verwirklicht hatte, was er, der Oberst, noch zu Zeiten, da er als junger Leutnant in die Armee Friedrich Wilhelms I. eingetreten war, erträumt hatte. Da lag die Welt offen vor seinem Auge, schillernd und faszinierend, wie er sie sich vorgestellt hatte. Seine Skepsis dem jungen Arzt gegenüber war
Weitere Kostenlose Bücher