Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
er sich letzte Nacht herumgetrieben? Er konnte sich nur noch dunkel an das Rotlichtviertel erinnern, an die Kneipe gegenüber dem Bordell und an einen Typen mit Schnauzbart, der ihn dorthin geführt hatte. Da war er schon ziemlich blau gewesen. Über den Rest der Nacht hatte sich der Schleier des Vergessens gebreitet.
Kanther zog sich langsam im Flur aus, beinahe in Zeitlupe. Achtlos ließ er die Kleider zu Boden fallen und stieg unter die Dusche. Er schrubbte sich, bis er das Gefühl hatte, die Spuren der vergangenen Nacht seien im Abfluss verschwunden. Während das heiße Wasser noch über sein Gesicht strömte, klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein.
»Herr Kanther?«, ertönte eine Stimme. »Mein Name ist Paul Kluge. Ich hätte Sie anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der Veröffentlichung von Drachentöter gerne interviewt. Könnten Sie mich bitte zurückrufen?«
Kanther betrachtete fassungslos seine Silhouette in der Glastür der Dusche. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, lachte und lachte, bis er sich verschluckte und husten musste. Eine Viertelstunde später rief er zurück. Dann begann er hektisch, seine Wohnung aufzuräumen. Kluge war bereits auf dem Weg.
Kanther kochte Kaffee und suchte fieberhaft nach einem Päckchen Zigaretten und seiner Ersatzbrille. Er erinnerte sich nach wie vor nur verschwommen an die Geschehnisse der letzten Nacht. Vielleicht war das besser so.
Das Warten auf den Zeitungsfritzen machte ihn wütend. Kluge verspätete sich und Kanthers ohnehin geringe Meinung von dieser Berufsgruppe wurde noch schlechter. Er riss das Küchenfenster auf, blickte in den verwaisten Hof hinunter und sog tief die kalte Morgenluft ein. Es wurde Zeit, dass der Frühling kam. Kanther fragte sich, was das Mädchen mit den blonden Zöpfen wohl gerade machte. »Vermutlich ist sie in der Schule, wie alle anständigen kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen.« Er erschrak über seine eigene raue Stimme. Das Wort Mädchen löste eine Kette von Gedanken aus und auf einmal schwappten Bruchstücke der Erinnerung an die Oberfläche. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer mageren jungen Frau in einem kahlen Zimmer. Es klingelte an der Tür.
Kluge war allein gekommen, er hatte ein Diktiergerät und eine Digitalkamera mitgebracht.
»In der Wirtschaftskrise muss auch die Zeitung sparen, die schicken nicht mehr zu jedem Termin einen Fotografen mit«, entschuldigte er sich und zog die Nase hoch. Kanther bot ihm ein Taschentuch an.
Sie nahmen am Küchentisch Platz. Kluge fixierte das Blatt Papier, auf dem er Fragen notiert hatte.
»Herr Kanther, 1990 wurde Ihr Roman Drachentöter veröffentlicht. Das Buch war ja seinerzeit wegen der hyperrealistischen Sex- und Gewaltdarstellungen sehr umstritten, glauben Sie, das wäre heute auch noch so?«
Kanther deutete auf das kleine silberfarbene Kästchen, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Sollten Sie das Gerät nicht einschalten?«
Kluge lachte nervös und tat wie geheißen. Dann wiederholte er die Frage.
Es klopfte an der Wohnungstür. Kanther entschuldigte sich und ging öffnen.
Seine Nachbarin stand mit dem Baby auf dem Arm im Treppenhaus und hielt ihm einen Briefumschlag unter die Nase. »Herr Kanther, ich möchte nicht länger Ihren Ersatzschlüssel aufbewahren.«
Kanther sah sie verdutzt an.
»Wir sind aufgewacht, als die Polizei mit Ihnen im Schlepptau mitten in der Nacht geklingelt hat, weil Sie nicht in Ihre Wohnung reinkamen. Mein Mann muss morgens früh raus und der Kleine hat eine Stunde lang geschrien.« Sie stand unbewegt wie eine Schaufensterpuppe vor ihm, den Umschlag in der ausgestreckten Hand. Kanther hatte die Befürchtung, dass sie gleich in Tränen ausbrach. Das fehlte ihm noch.
»Tut mir leid, kommt nicht wieder vor«, erwiderte er knapp und schnappte den Umschlag. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal um. »Haben die Polizisten gesagt, warum sie mich aufgegriffen haben? Oder wo?«
Sie schüttelte den Kopf.
Als er in die Küche zurückkehrte, stand Kluge am Fenster und winkte jemandem zu. Kanther spähte über seine Schulter. Das kleine Mädchen spielte im Hof.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er.
Kluge drehte sich um. Kanther fiel nicht ein, wo er solche Augen schon einmal gesehen hatte.
»Haben Sie jemals über eine Fortsetzung von Drachen- töter nachgedacht?«
Es wurde höchste Zeit, dass sich diese Nervensäge von Reporter verabschiedete.
Nachdem Kluge
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