Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
gegangen war, setzte Kanther sich an den Küchentisch. Er verlängerte seinen Espresso mit Kognak. Wieso hatte ihn die Polizei aufgegriffen? Diese Blackouts machten ihm langsam Angst. Er blätterte geistesabwesend in der Zeitung. Es interessierte ihn nicht mehr, was in dieser Stadt oder in der weiten Welt passierte, nicht die abstrakten Ereignisse aus Politik, Wirtschaft, Sport. Menschen interessierten ihn, als Studienobjekte. Gelegentlich las er das Feuilleton, denn das befasste sich hin und wieder mit echten Menschen. Aber deren Selbstgefälligkeit verdarb ihm dann meistens endgültig die Laune.
Mit einem Mal fiel ihm auf, dass er Kluge gar nicht gefragt hatte, für welche Zeitung er arbeitete. Er schrieb es seinem Kater zu und warf die Zeitung in den Abfalleimer – bestimmt würde sich wieder jemand beschweren, weil er sich einen Teufel um die Mülltrennung scherte. Die unscheinbare Meldung im Lokalteil übersah er.
Selbstmord in illegalem Bordell – Prostituierte bei Razzia tot aufgefunden.
Unter dem Artikel ein Passfoto von Elena Pawlenko.
5. März
Am nächsten Tag beschloss Kanther, etwas Nützliches zu tun. Auf dem Weg zum Telefon sah er die Tür zum Arbeitszimmer einen Spalt weit offen stehen. Normalerweise war sie fest verschlossen. Vielleicht hatte er im Suff nachts noch etwas geschrieben? Nein, der Computer war ausgeschaltet.
Er wählte die Nummer seines Hausarztes, aber die Praxis machte Urlaub. Obwohl es ihn Überwindung kostete, rief er die Vertretung an.
»Praxis Dr. Weinmüller, was kann ich für Sie tun?«
Die Dame am anderen Ende der Leitung klang immerhin freundlich. Kanther trug sein Anliegen vor, sie erklärte ihm, dass er einen Termin benötige. Kanther fing an, sie zu beschimpfen, sie legte wortlos auf.
Er rief erneut an – diesmal kostete es ihn noch mehr Über- windung – und entschuldigte sich. Er bettelte, wenigstens den Arzt sprechen zu dürfen, da er nicht die geringste Lust hatte, stundenlang mit Schulschwänzern und vereinsamten Rentnern im Wartezimmer zu hocken. Zur Strafe hing er eine Ewigkeit in der Warteschleife. Endlich knackte es in der Leitung.
»Ja bitte?« Eine Frauenstimme.
»Wann kann ich endlich mit Dr. Weinmüller sprechen?«, bellte Kanther.
»Ich bin Dr. Weinmüller. Um was geht es denn?« Eine Ärztin, auch das noch.
»Mein Hausarzt Dr. Vikram ist im Urlaub. Ich nehme ein Medikament mit Haloperidol . Leider geht mein Vorrat zur Neige und ich brauche ein neues Rezept.«
»Sie haben eine Psychose?«, wollte die Ärztin wissen.
»Hören Sie, ich möchte nur ein Rezept. Ich nehme die Tabletten seit über dreißig Jahren.«
»Wenn Sie unter einer Psychose leiden, muss das Mittel genau auf Sie eingestellt sein. Ich kann Ihnen nicht einfach ein Rezept ausstellen. Bitte machen Sie einen Termin in der Praxis aus.«
Kanther hatte keine Chance, etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen – es knackte und die Arzthelferin war wieder in der Leitung zu hören. »Herr Kanther? Ich könnte Ihnen einen Termin am Montag anbieten.«
»Leck mich!«, brüllte er und knallte den Hörer auf die Gabel. Wen wunderte es, stand das deutsche Gesundheitssystem doch vor dem Zusammenbruch, wenn aus einer trivialen Sache wie einem Rezept ein Staatsakt wurde.
Mehr aus Gewohnheit als aus einer Ahnung heraus schaltete Kanther den Computer ein. In seinem elektronischen Postfach befand sich eine neue Nachricht von Hermann Rittka. Kanthers Laune besserte sich merklich. Er musste an einen Ausspruch von Sir Arthur Conan Doyle denken: Arbeit ist das beste Mittel gegen Verzweiflung.
Er öffnete das angehängte Dokument, bei dem es sich um das erste Kapitel von Hermann Rittkas Roman handelte, und druckte es ohne weitere Prüfung aus.
Dann nahm er das erste Blatt aus dem Drucker. Der Auftrieb, den seine Stimmung durch die Aussicht auf die bevorstehende Arbeit erhalten hatte, wurde jäh gestoppt, und Kanthers Miene verdüsterte sich schlagartig. Offensichtlich war der Zeitungsmann nicht der einzige gewesen, der eine Fortsetzung des Drachentöters begrüßt hätte. Das Manuskript von Herrmann Rittka trug den unmissverständlichen Titel: Drachenstich – der Drachentöter kehrt zurück.
Viele Jugendliche, die im Kinderheim aufwuchsen, machten früh Bekanntschaft mit Drogen. An seinem dreizehnten Geburtstag rauchte Martin Kanther den ersten Joint seines Lebens, der zugleich auch sein letzter war. Etwa eine halbe Stunde später griff er einen Jungen aus der Gruppe mit einem Messer an
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