Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
ihrer Seele ausgeleuchtet und dann für tot erklärt hatte. Seine Charaktere neigten offenbar dazu, ein Eigenleben zu entwickeln, ungeachtet der Pläne des Autors. Aber eine fiktive Gestalt, derer sich ein anderer bemächtigt hatte, um ihren Lebensweg zu lenken, glich einem Kind, das man zur Adoption freigeben hatte. Falls sich später ein Kontakt anbahnte, irritierten einen das neue Zuhause, die Adoptiveltern und – geschwister und die fremde Biografie.
In diesem Moment flog Karl, der auf der Schaukel saß, im hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Bauch. Kanther war im Umkreis von fünfzig Metern der einzige Erwachsene, der nicht aufsprang, um dem Jungen zur Hilfe zu eilen. Stattdessen beobachtete er belustigt, wie die Mutter dem schreienden Kind die blutige Nase abwischte.
Eine Weile hatte der Atem der Kleinen ausgesetzt. Ich dachte, sie hätte es geschafft. Aber als ich den Zug auf dem Kabel lockerte, um den Finger an ihre Halsschlagader zu legen, schnappte sie plötzlich nach Luft. Einmal kurz und heftig, gefolgt von einem Röcheln, danach Stille. Eine Minute später das Gleiche. Diese Szenerie erinnerte mich an meine Kindheit, als ich meinen Großonkel gelegentlich zum Angeln an einen Waldteich begleiten durfte. Die Karpfen, die er gefangen hatte, lagen völlig apathisch im Gras. Dann, in einem letzten Aufbäumen, schnappten sie kurz und tief nach Luft, rissen ihre schleimigen Mäuler auf. In wachsenden Abständen, minutenlang. Bis sie schließlich verendeten.
Auch die Kleine hatte aufgehört, nach Luft zu ringen. Ich zählte die Sekunden. Bei dreihundert wusste ich, dass sie es überstanden hatte. Dann nahm ich ein Gummi aus der Tasche und riss die Folie auf. Das Mädchen glich einem schlafenden Schneewittchen. Ich war gespannt, wie es sich anfühlte, Schneewittchen zu ficken.
Kanther ahnte, was nun folgen würde. Er ging zum Kiosk und wartete auf Nachschub. Neben Giannis stand eine junge Frau an der Kaffeemaschine, hübsch anzusehen, blond, in Jeans und engem Oberteil. Vermutlich eine Studentin, die aushalf. Kanther gab vor, den Sinnspruch auf einem Zuckertütchen zu lesen und sah verstohlen zu ihr hinüber. Seine Hemmungen gegenüber normalen Frauen, solchen, die er nicht dafür bezahlte, mit ihm zu schlafen, hatte er nie abgelegt. Einer attraktiven Frau konnte er kaum in die Augen sehen. Mit Kaffee und Kognak bewaffnet, kehrte er an seinen Platz zurück.
Die Kleine wog bestimmt weniger als fünfzig Kilo, aber selbst dieses zarte Schneewittchen hochzuhieven, bedeutete einen Kraftakt. Vor allem, weil ihr Körper vollkommen erschlafft war. Die Klinken an den Fenstern hatte man abmontiert, vermutlich, um Fluchtversuchen der Mädchen vorzubeugen. Also blieb nur der Deckenventilator. Es gelang mir, die Leiche über meine Schulter zu wuchten und auf einen Stuhl zu steigen. Das Kabel ließ ich um ihren Hals, dann wickelte ich das andere Ende um den Schaft des Ventilators und zog sie hoch.
Ein Schwarzer stand vor ihm, trotz der frühlingshaften Wärme in Winterkleidung gehüllt, und hielt ihm einen Strauß roter Rosen unter die Nase. Warum hielten sich die Kerle nicht an verliebte Pärchen? Einen Moment lang erwog Kanther kühn, der Studentin im Kiosk eine Rose zu schenken. Dann verwarf er den Gedanken. Fünf Minuten später stand der nächste Rosenverkäufer vor ihm. Es reichte ihm. Kanther stand auf, verstaute Manuskript und Rotstift in der Tasche, stürzte den Rest Kognak hinunter und ging. Der kleine Karl lag selig schlafend in seinem Buggy.
Der Betreiber des Kiosks in der Berger Straße entschuldigte sich für einen Moment. Er müsse im Lagerraum nachsehen, ob dort noch eine Tüte H-Milch sei. Fünf Schachteln Zigaretten türmten sich vor Kanther auf. Die kurze Pause bot ihm Gelegenheit, einen Blick auf die Schlagzeilen im Zeitungsständer zu werfen.
Die Gesundheitsreform des amerikanischen Präsidenten war nach schwerem Ringen vom Kongress verabschiedet worden. Das polnische Staatsoberhaupt und der größte Teil seines Regierungsstabes waren bei einem Flugzeugabsturz in Russland ums Leben gekommen. Bei der Flugbegleiterin der Lufthansa, die seit über einer Woche vermisst wurde, wollte man ein Verbrechen nicht ausschließen. Und in einem Waldstück bei Kronberg hatten Jäger die Leiche einer jungen Frau entdeckt, in einem Baum hängend. Der reißerische Artikel wurde von Fotos begleitet, die zwei Mädchen zeigten. Kanther betrachtete das eine genauer. Er bekam weiche
Weitere Kostenlose Bücher