Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
würde eines Tages ihre Verbindungen nutzen, um die Beziehungen zwischen Polizei und Presse zu entspannen.
Nora argwöhnte, dass sich ein Racheakt hinter der Kolumne verbarg, die wie ein Rundumschlag gegen die Polizei anmutete. Aber vermutlich sah der Verfasser seine Aufgabe darin, Leuten auf die Füße zu treten und die Dinge plakativ darzustellen. Trotzdem – ein wenig mehr Respekt vor ihrer Arbeit hatten sie verdient.
Es wurde Zeit, dass Nora ihrem Vater Wilfried einen Besuch abstattete.
*
Kanther starrte fassungslos auf die Zeitung.
Und obwohl ein stadtbekannter Bestsellerautor unter dringendem Tatverdacht stand, ließ man ihn unbegreiflicherweise wieder frei, und er lebt bis heute unbehelligt unter uns.
Das war alles ein halbes Leben her und er hatte sich selbst überhaupt nicht mit dem Geschehen in Verbindung gebracht. Er hatte nur das Hier und Jetzt gesehen. Seine Begegnung mit dem ermordeten Mädchen. Die fehlenden Stunden in jener Nacht. Aber das hier ging viel tiefer. Er hatte gut daran getan, nicht nach Hause zu gehen, vermutlich quoll sein Anrufbeantworter inzwischen über vor verhaltenen Drohungen und Anschuldigungen. Und Anfragen der Reporter. Wilfried Winter hatte sich offenbar vorgenommen, sein Leben zu zerstören, oder das wenige, was noch davon übrig war. Jetzt würde es nicht lange dauern, bis die Polizei wieder vor seiner Tür stand. Er würde ein Alibi brauchen, dabei konnte er sich an nichts erinnern. Die Polizisten würden wissen wollen, ob er seine Medikamente nahm. Wenigstens darauf wusste er eine Antwort.
Vor zwanzig Jahren war es ihm nicht schwer gefallen, Ruhe zu bewahren. Er war jung gewesen und furchtlos. Nein, nicht furchtlos, die Angst war immer schon in seinem Gepäck gereist. Aber damals hatte er das Gepäck fest verschnürt. Jetzt war er ein gebrochener Mann, ein Trinker, der schon in der Vergangenheit die Kontrolle verloren hatte, wenn er seine Tabletten absetzte. Vielleicht war er wieder ausgerastet. Vielleicht hatte er in den Stunden nach seinem Besuch in der Elbestraße die Grenze überschritten und jemanden getötet.
Vielleicht.
Er wusste es einfach nicht mehr.
Der Zahn der Zeit hatte seine Spuren an Kanthers Wohnung hinterlassen. Da der Besitzer ihr jahrelang die nötigen Sanierungsarbeiten versagt hatte, hätte sie auf Besucher wie ein Museum gewirkt, ein Museum für Provisorien. Doch Besucher kamen keine. Wenn man von der Dame vom Finanzamt absah, die vor ein paar Jahren beim Versuch, aus der Küche auf den Balkon zu treten, um ein Haar in die Tiefe gestürzt wäre. Dort, wo bei den Nachbarwohnungen im Zuge der Gentrifizierung des Viertels Balkone angeständert worden waren, klaffte im dritten Stock ein Abgrund.
Von seinem ersten größeren Tantiemenscheck hatte Kanther die Wohnung auf Anraten seiner Agentin gekauft, die selbst Eigentum im Nordend besaß. Damit hatte er vermutlich die einzige vernünftige finanzielle Entscheidung in seinem Leben getroffen. Ohne diese Altbauwohnung wäre er längst auf der Straße oder im Männerwohnheim gelandet. In den Neunzigern hatte ein findiger Bauunternehmer die restlichen Wohnungen im Haus gekauft. Er hatte die Mieter vertrieben und wollte die geräumigen Wohnungen in Luxusdomizile umwandeln, die er zu überteuerten Preisen an Jungbanker und geschiedene Unternehmensberater zu verkaufen gedachte. Der verlotterte Schriftsteller im dritten Stock war ihm dabei ein Dorn im Auge.
Eines sonnigen Samstags stand er vor Kanthers Tür, ein schmieriges Lächeln im Gesicht und einen dicken Umschlag mit knisternden Banknoten in der Hand. Ob Kanther sich nicht doch noch einmal überlegen wolle, seine Wohnung zu veräußern? Zu einem guten Preis und in bar? Kanther wollte nicht. Zwei Tage später beschädigten die Handwerker im Haus ›versehentlich‹ die Strom- und Wasserleitung und legten darüber hinaus lautstarke Sonderschichten ein: in aller Herrgottsfrühe, spät in der Nacht, an Sonn- und Feiertagen. Traf die Polizei endlich ein, war der Spuk längst vorbei. Irgendwann schwieg auch die Telefonleitung. Doch Kanther ließ sich nicht hinausekeln. Er überdauerte den Möchtegern-Mafioso, ebenso wie seine missgünstigen Nachbarn, die Jungbanker und geschiedenen Unternehmensberater, die nicht verstehen wollten, dass man die Callas laut hören musste. Sehr laut, egal um welche Uhrzeit. Nach dem Finanzmarktcrash verschwanden die neuen Mitbewohner so sang- und klanglos, wie sie gekommen waren. Die Balkone
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