Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
blieben.
Die Wohnung war in einem erbärmlichen Zustand. Die Warmwasserleitungen husteten wie tuberkulosekranke Sanatoriumsgäste, auf den Fensterbänken lagen verschlissene Handtücher in Rollen, die die Zugluft draußen halten sollten, und einmal im Quartal musste Kanther den Klempnernotdienst rufen, weil die Toilette verstopft war. Der Stuck an den dreieinhalb Meter hohen Decken war vergilbt vom Rauch, genauso wie die Rahmen der mannshohen Fenster mit den breiten Oberlichtern. Die Dielenbretter des ergrauten Eichenholzbodens knarrten bei jedem Schritt, und das Geräusch hallte durch die Wohnung wie durch eine Tropfsteinhöhle, weil Kanther alle überflüssigen Möbel entfernt hatte. Entfernt hatte er auch die Bilder an den Wänden, außer einem Plakat vom ersten Auftritt der Callas in der Met im Jahre 1956.
Es war eine dunkle Wohnung. Obwohl sie im dritten Stock lag, drang wegen der umliegenden hohen Wohnhäuser kaum Sonnenlicht durch die schmutzblinden Fenster. Und über allem lag der bleischwere Dunst von kaltem Zigarettenrauch, verschüttetem Rotwein und ungewaschener Kleidung, die sich in Kanthers Badewanne türmte.
Eine geschlagene halbe Stunde lang marschierte Kanther vor dem Haus auf und ab. Er traute sich nicht in seine eigene Wohnung. Aus Angst. Am anderen Ende der Straße winkte ihm seine Nachbarin zu, die mit dem schlafenden Baby im Kinderwagen vom Einkaufen zurückkehrte. Es kam ihm albern vor, seinen Marsch fortzusetzen, also begleitete er sie hinauf.
Den Geruch bemerkte er erst, als er das Wohnzimmer betrat. Ein kaum wahrnehmbarer Duft nach Zimt, Nelken und starkem Tabak.
»Hallo Martin.«
Siegfried Bär hatte sich kaum verändert. Klein, drahtig und mit kurz geschorenen roten Haaren saß er, die Beine übereinandergeschlagen, auf Kanthers verschlissener Chaiselongue und grinste. Durch die Finger der linken Hand ließ er geschickt eine filterlose Zigarette wandern. Dann hielt er sie Kanther hin. »Gudang Garam?«
»Wie bist du reingekommen?«, fragte Kanther.
»Durch die Tür. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich eine rauche, oder?« Ohne die Antwort abzuwarten, zündete Siegfried die indonesische Gewürzzigarette an und nahm einen tiefen Zug. Der Duft nach orientalischen Kräutern wurde intensiver.
»Was willst du von mir?«, fragte Kanther.
Siegfried setzte eine enttäuschte Miene auf. »Wie wäre es mit ›Guten Tag, lieber Siegfried. Wie geht es dir? Möchtest du etwas trinken? Wo hast du dich herumgetrieben in den letzten Jahren?‹ So eine Begrüßung hätte ich von einem alten Freund erwartet, den man Jahre nicht gesehen hat. Oder hast du neben deinem Ver stand auch deinen An stand versoffen?« Siegfried blickte demonstrativ zum Regal, in dem eine stattliche Anzahl Rotweinflaschen aufgereiht stand.
»Diese Form der Begrüßung hebe ich mir für Gäste auf, die sich vorher anmelden und die ich freiwillig in die Wohnung lasse. Für Einbrecher habe ich ein anderes Vokabular.«
»Eloquent wie eh und je, alter Schreiberling. Also, kriege ich jetzt was zu trinken? Sollten wir unser Wiedersehen nicht begießen?«
Kanther verschwand kopfschüttelnd in der Küche und füllte die Caffettiera mit Wasser und Kaffeepulver. Siegfried war ihm gefolgt, stellte sich ans Küchenfenster und sah in den Hof hinunter. Während die Kanne auf dem Herd blubberte, gesellte sich Kanther zu ihm. Das kleine blonde Mädchen malte mit Straßenkreide bunte Kreise auf den brüchigen Asphalt.
Siegfried lächelte. »Niedlich.«
»Seit wann rauchst du denn dieses furchtbare Kraut?«, fragte Kanther.
»In Indonesien rauchen das alle.«
»Du warst in Indonesien?«
»In Singapur.«
»Wow. Du bist zu beneiden.«
»Ich saß dort im Knast.« Siegfrieds Miene verdunkelte sich.
»Oh …« Kanther war überrascht. »Tut mir leid. Lange?«
»Zwanzig Jahre. Bin gerade erst wieder draußen.«
Kanther stieß die Luft zischend durch die Zähne aus und rang um Fassung. »Du sitzt zwei Jahrzehnte im Gefängnis in Südostasien, und das Erste, was du nach deiner Entlassung tust, ist, nach Frankfurt zu fliegen und in meine Wohnung einzubrechen?«
»Du kennst mich doch. Ich habe einen Standpunkt. Und ich kann furchtbar nachtragend sein. Vor allem bei alten Freunden.« Siegfried suchte nach einem Anzeichen von Verschlagenheit in Kanthers Gesicht, aber da las er nur Unverständnis. Er sah ihn lange an.
Endlich dämmerte es Kanther. Er lachte. Lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Ach Gott! Die Abmachung, die wir getroffen
Weitere Kostenlose Bücher