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Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung

Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung

Titel: Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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die Szene im Laufhaus zurück. Die kurzhaarige Prostituierte, die Anführerin, die sie verhöhnt hatte. Der Fotoblitz des Handys, der sie einen Moment lang geblendet hatte. Das kleine Tattoo auf der Innenseite ihres Unterarms.
    Tattoo. Blitzlicht. Kamera.
    Noras Haut prickelte, die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Ihr Atem ging schnell. Mit einem Satz war sie zurück an ihrem Schreibtisch und nahm eine durchsichtige Folie und einen Folienstift aus der Schublade. Sie legte die Folie auf Agniezkas Bild über eines der Kreidesymbole. Schlange, Quadrat, Kreis. Zog schwarze Linien um die Symbole. Finger, eine Hand, ein Arm. Eine zweite Hand gegenüber. Künstlerisches Zeichnen war nicht ihre Stärke, aber für ihr Vorhaben würde es reichen.
    Sie legte den Stift beiseite. Hob die Arme, die Handflächen nach vorne gekehrt, wie in einer Beschwörungszeremonie, und versuchte, sich vorzustellen, wie diese Haltung auf andere wirken mochte. Dann nahm sie den Stift wieder in die Hand und vollendete das Bild.
    Lange starrte sie auf ihre Zeichnung, atemlos, entrückt; sie wusste instinktiv, dass sie die richtige Schlussfolgerung gezogen hatte. Was sie anfangs für Schlangen gehalten hatte, waren in Wirklichkeit Drachen, daher auch die kleinen Flügel, die rechts und links vom Körper abstanden. Die Drachen befanden sich auf den Unterarmen eines Menschen, und dieser Mensch hielt etwas in den Händen, wie man deutlich erkannte. Etwas Rundes im Inneren eines Rechtecks. Ein Objektiv in einem Kameragehäuse. Das Blitzlicht, gekennzeichnet durch Strahlen.
    Der Täter hatte Fotos von Agniezkas Mutter gemacht, vermutlich gab es auch welche von Elena und Natalia. Agniezka hatte das Geschehen beobachtet und der Anblick der Tätowierungen auf seinen Unterarmen hatte sich so unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt, dass sie dem in ihrem Bild Ausdruck verliehen hatte.  
    Doch wozu schoss der Mörder die Fotos? Legte er eine persönliche Sammlung an?
    »Frau Kollegin?«
    Nora stieß einen spitzen Schrei aus und ließ den Folienstift fallen.
    »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken!« Gideon Richter stand in der Tür und strahlte wieder die gewohnte Mischung aus gespielter Verlegenheit und Herablassung aus.
    »Die Tür stand offen.«
    Die Tür war fraglos geschlossen gewesen, denn sie hatte verhindern wollen, dass einer der Kollegen das Foto von Agniezkas Kreidezeichnungen auf dem Spielplatz jetzt schon zu Gesicht bekam. Doch sie schwieg und verzog keine Miene. Als Richter neugierig zum Schreibtisch herüberlugte, legte sie eine Aktenmappe auf das Bild.
    »Was gibt’s, Richter?«
    »Ich habe mich nur gewundert, warum Sie schon so früh im Dienst sind. Irgendwelche neuen Erkenntnisse, die Sie mit mir teilen möchten?«
    Nora lächelte unterkühlt. »Mit ihnen zuallerletzt, Herr Kollege.«
    Sie stand auf und knallte ihm die Bürotür vor der Nase zu.
    »Ich wollte mich nur bei Ihnen entschuldigen«, hörte sie seine gedämpfte Stimme durch die Tür.
    Sie antwortete nicht. Für eine Entschuldigung war es zu spät.
    *
    Kanther hatte die selbst verordnete Abstinenz nicht lange durchgehalten. Schweißgebadet war er nachts aufgewacht, ihm war speiübel gewesen. Gegen diese Krankheit kannte er nur eine wirksame Medizin.
    Er hatte die Küche auf den Kopf gestellt, bis der Nachbar sich mit dem Besenstiel gegen den Lärm gewehrt hatte. Und dann, endlich, war ganz hinten im Schrank eine Flasche Pflaumenwein aus einem chinesischen Restaurant aufgetaucht. Haltbarkeitsdatum längst überschritten, keine zehn Volumenprozent, aber immerhin Alkohol.
    Er hatte sich auf ein Schnapsglas von dem grauenhaft klebrigen Gebräu beschränkt, genug, um den Körper für den Rest der Nacht zu besänftigen. Dann hatte er die Flasche widerstrebend in den Kühlschrank verfrachtet und sich wieder schlafen gelegt.
    Kein Kater heute Morgen. Martin Kanther war ein wenig stolz auf sich.
    Wo sollte er anfangen?
    Kanther stand unschlüssig vor seinem Schreibtisch. Er hatte die Vorhänge zurückgezogen und die Fenster zum Lüften weit aufgerissen, das erste Mal seit Monaten. Der Staub wirbelte durch die einfallenden Sonnenstrahlen. Sein Computer gab keinen Mucks von sich, aber darauf war Kanther nicht aus. Sein Interesse galt etwas, das sich im Schreibtisch befand.
    Zwei ungewöhnliche Worte in Rittkas Brief hatten eine Saite in ihm zum Schwingen gebracht: Hochverehrter. Mentor . Seit Goethes Zeiten grüßte vermutlich niemand mehr seinen Lehrer auf diese

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