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Tödliche Gier

Tödliche Gier

Titel: Tödliche Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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brauchte?
    Ich ging zu der Glaswand hinüber und spähte in den Raum daneben: ein regelrechter Zellenblock aus Postfächern, nummeriert und mit gläsernen Vorderseiten, vom Boden bis auf Kopfhöhe, dazu ein Schlitz an der Wand gegenüber, in den man Briefe und kleine Päckchen werfen konnte. Das war der Teil, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Ich schritt durch die Glastür und folgte den Nummern, bis ich Fach 505 gefunden hatte — fünfte Reihe, fünftes Fach von oben. Ich beugte mich vor und blickte durch das winzige Fenster aus facettiertem Glas. Es war keine Post zu sehen, aber ich konnte einen Teil des Raumes dahinter ausmachen, wo ein Mann die Reihen entlangging und aus einem Stapel in der Hand Briefe einsortierte. Als er in meiner Reihe ankam, klopfte ich ans Fenster von 505.
    Der Mann bückte sich, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit meinem war.
    »Kann ich Sie sprechen?«, fragte ich. »Ich brauche jemanden, der mir hilft.«
    Er zeigte nach rechts. »Gehen Sie zum Einwurfschlitz.«
    Wir bewegten uns beide in dieselbe Richtung, er auf seiner Seite der Fächer und ich auf meiner. Der Schlitz lag auf Brusthöhe. Diesmal lehnte ich mich dagegen und konnte sehen, wie sich die Post in dem Behälter darunter stapelte. Der Mann war wesentlich größer als ich, und der Unterschied zwang ihn nicht nur, sich zu bücken, sondern auch den Kopf in einem unnatürlichen Winkel abzuknicken. »Was liegt denn an?«, fragte er.
    Ich zog eine Visitenkarte heraus und schob sie durch den Schlitz, damit er lesen konnte, wer ich war. »Ich brauche Angaben über die Person, die Postfach 505 gemietet hat.«
    Er nahm meine Karte und studierte sie. »Wozu?«
    »Ermittlungen in einem Mordfall.«
    »Haben Sie einen richterlichen Befehl?«
    »Nein, habe ich nicht. Wenn ich einen hätte, bräuchte ich nicht zu fragen.«
    Er schob mir die Karte wieder hin. »Fragen Sie Tiffany. Das ist ihre Abteilung.«
    »Ihre Abteilung ? Sie waren doch nur zu zweit. Was redete er denn da? »Sie ist weg, und auf dem Zettel steht, dass sie erst am Montag wieder da ist.«
    »Dann müssen Sie Montag wiederkommen.«
    »Geht nicht. Da muss ich vor Gericht aussagen. Es dauert doch nur einen Augenblick«, bat ich. »Bitte, bitte, bitte?«
    Er gab sich genervt. »Was wollen Sie denn?«
    »Ich muss nur einen Blick auf den Mietvertrag werfen und nachsehen, wer der Mieter ist.«
    »Warum?«
    »Weil die Witwe des Mannes vermutet, er hätte sich unter dieser Adresse pornografisches Material schicken lassen, was ich aber nicht glaube. Das Einzige, was ich wissen will, ist, wer das Formular ausgefüllt hat.«
    »Das soll ich aber eigentlich nicht.«
    »Könnten Sie nicht eine Ausnahme machen? Es könnte wirklich unheimlich hilfreich sein. Denken Sie nur, wie viel Kummer der Frau erspart bliebe.«
    Ich sah, wie er auf den Boden starrte. Ich schätzte ihn auf vierzig, viel zu alt für diese Art von Arbeit. Ich konnte mir seinen Konflikt ausmalen. Einerseits gab es Vorschriften, obwohl ich für mein Teil bezweifelte, dass es irgendwelche Regeln bezüglich meiner Bitte gab. Er war nicht im öffentlichen Dienst, und für seinen Job wurde keine Sicherheitsüberprüfung verlangt. Leitender Postsortierer. Er konnte von Glück sagen, wenn er pro Stunde fünfzig Cents mehr als den Mindestlohn bekam.
    »Ich habe erst vorhin mit der Polizei gesprochen und gesagt, dass ich das vorhabe, und sie meinten, es sei in Ordnung.«
    Keine Reaktion.
    »Ich gebe Ihnen zwanzig Dollar.«
    »Warten Sie dort.«
    Er verschwand eine Zeit lang, die mir endlos erschien. Ich zog die zwanzig aus meiner Brieftasche, faltete sie längs, bog sie um und ließ sie auf dem Rand des Einwurfschlitzes balancieren, da ich fürchtete, er könne moralisch heikel sein und vor direkter Hand-zu-Hand-Bestechung zurückschrecken. Während ich wartete, stand ich mit dem Rücken zur Wand da und behielt den Eingang im Blick. Kurz malte ich mir aus, wie Richard Hevener mit seinem Sportwagen durch das Glasfenster donnerte und mich an die Wand quetschte. In Filmen sprangen die Leute immer aus dem Weg führerloser Züge, die sich in Bahnhöfe bohrten, warfen sich zur Seite, wenn Jumbo-Jets in Flughäfen knallten oder Busse wild wurden und auf den Gehsteig rasten. Wie bereitete man sich im richtigen Leben auf einen solchen Sprung vor?
    »Lady?«
    Ich sah mich um. Der Mann war zurückgekehrt, und der Zwanziger, den ich im Schlitz hatte stecken lassen, war verschwunden. Er hatte den Mietvertrag bei sich, hielt ihn aber

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