Tödliche Gier
vorgesehen, dazu ein Lobgesang, zwei Gebete, eine Solistin, die das Ave Maria singen würde, schließlich eine Trauerrede und zwei weitere Kirchenlieder.
Eine Nachzüglerin kam herein, eine Frau mit mittelblonden Haaren, die ich verspätet als Pepper Gray erkannte, meine Lieblingsschwester. Ich sah ihr zu, wie sie sich aus dem Mantel wand und auf Zehenspitzen den halben Mittelgang entlangschlich, wo sie stehen blieb, während ein Mann sich erhob, um sie in die Bank zu lassen. Sie ging, als trüge sie immer noch Schuhe mit Kreppsohlen.
Der Pfarrer trat in einem Talar auf, der dem eines Richters ähnelte. Begleitet wurde er von seinem geistlichen Vollstreckungsbeamten, der den Standardsatz aus dem Gerichtssaal intonierte: »Erheben Sie sich.« Wir stellten uns hin und sangen. Während alle die Köpfe gebeugt hielten, beschäftigte ich mich in Gedanken mit dem Zustand meiner Strumpfhose und meiner widerspenstigen Seele. Es ist mir ein Rätsel, warum Strumpfhosen nicht so geschnitten werden können, dass sie bleiben, wo sie sind. Was den Zustand meiner Seele betraf, so war die religiöse Unterweisung meiner frühen Jahre bestenfalls als lückenhaft zu bezeichnen, da sie aus aufeinander folgenden Verweisen aus verschiedenen Sonntagsschulen bestand. Meine Tante Gin hatte nie geheiratet und besaß keinen eigenen Nachwuchs. Nachdem ich durch den Tod meiner Eltern so plötzlich in ihre Obhut gekommen war, wurde sie von einem Tag auf den anderen ohne jede Erfahrung in die Elternrolle gedrängt und legte die Regeln nach Bedarf fest. Von Anfang an litt sie unter der irrigen Überzeugung, dass man Kindern die Wahrheit sagen soll, und so wurde ich mit ausführlichen und schonungslosen Antworten auf die einfachsten Fragen traktiert, wobei die nach der Herkunft der Babys meine früheste war.
Meine unseligste Sonntagsschulerfahrung machte ich am ersten Weihnachtsfest unter ihren Fittichen, als ich fünfeinhalb Jahre alt war. Sie muss sich wohl verpflichtet gefühlt haben, mich einer religiösen Lehre auszusetzen, und so brachte sie mich in die Baptistenkirche, die einen Block von unserem Wohnwagenpark entfernt lag. Die Lesung drehte sich an diesem Sonntagmorgen um Maria und Josef, und ich war auf der Stelle gegen sie eingenommen. Soweit ich es überblickte, war das arme Jesuskind einem Paar Penner geboren worden, die so dämlich waren, es in einem Stall zur Welt zu bringen. Als meine Sonntagsschullehrerin Mrs. Nevely meinen kleinen Klassenkameraden erklärte, wie es zugegangen war, dass Maria »ein Kind erwartete«, war ich offenbar die Einzige unter den Anwesenden, die wusste, wie weit sie daneben lag. Meine Hand schoss in die Höhe. Sie rief mich auf, erfreut über meinen Eifer, einen Beitrag zu leisten. Ich kann mich noch gut an die Veränderung erinnern, die über ihre Miene zog, als ich die Grundzüge der Empfängnis skizzierte, wie sie mir Tante Gin erklärt hatte.
Als Tante Gin mich abholen kam, hatte man mich auf die Bordsteinkante gesetzt, mir einen Zettel ans Kleid gesteckt und mir eingeschärft, dass ich kein Wort sprechen durfte, bis sie kam. Zum Glück gab sie mir nicht die Schuld. Sie machte mir ein »Sammich« mit Weißbrot und Butter, gefüllt mit halbierten Wiener Würstchen aus der Dose. Ich setzte mich auf die Treppe vor dem Wohnwagen und verspeiste mein rustikales Mittagessen. Während ich in ihrem winzigen Vorgarten mit mir selbst Krocket spielte, rief Tante Gin alle ihre Freundinnen an, sprach mit gedämpfter Stimme und lachte ziemlich viel. Ich wusste, dass ich sie glücklich gemacht hatte, auch wenn mir nicht klar war, womit.
Als der Geistliche schließlich auf die Kanzel trat, gab er genau die Art von allgemein gültigen Kommentaren ab, die auf jeden Verstorbenen passen, wenn er nicht gerade ein völlig verkommenes Subjekt gewesen ist. Schließlich war der Gottesdienst vorüber, und die Leute verließen die Kirche. Ich blieb in der Nähe der Tür, da ich hoffte, Fiona zu erwischen, bevor sie verschwand. Ich wollte einen Termin vereinbaren, um in einem Gespräch die Modalitäten unserer Beziehung zu klären. Endlich sah ich sie. Sie stützte sich schwer auf ihre Tochter, die an ihrer Seite ging. Melanie muss gewusst haben, wer ich war, da sie mir einen warnenden Blick zuwarf, während sie ihre Mutter die Stufen hinunter und zum Parkplatz führte.
Anica berührte mich am Arm. »Kommen Sie noch mit zum Haus? Wir erwarten ein paar Gäste.«
»Sind Sie sicher, dass das in Ordnung ist? Ich möchte mich nicht
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