Tödliche Gier
begegnen.«
Wir bogen links ab und kamen am Personal-Aufenthaltsraum, dem Zentrallager und einer Reihe von Patientenzimmern vorbei. Viele Türen waren geschlossen und außen mit Grußkarten oder getrockneten Blumenkränzen geschmückt. Manchmal sah man die Namen der Bewohner in Folienbuchstaben dort stehen, fröhlich von einer Mini-Wäscheleine aus Geschenkband oder Schnur herabhängend. Durch die offen stehenden Türen konnte ich kurze Blicke auf Einzelbetten mit geblümten Tagesdecken und Reihen von Familienfotos auf Kommoden werfen. Jeder Raum war in einem anderen Farbschema eingerichtet, und jeder ging auf einen schmalen Garten hinaus, in dem blühende Büsche unter den ersten Tropfen eines prasselnden Regengusses erzitterten. Wir kamen an einer alten Frau vorbei, die mit ihrer Gehhilfe den Flur hinabstapfte. Sie ging mit schnellem Schritt, und als sie an der Ecke ankam, bog sie mit solchem Elan ab, dass sie fast seitlich umgekippt wäre. Merry streckte eine Hand aus und stützte sie. Die Frau ging in die Kurve, machte einen weiten Bogen und wankte dann weiter.
Ruby Curtsinger saß auf einem Polstersessel neben einer gläsernen Schiebetür, deren eine Hälfte aufgezogen war, um einen Hauch feuchter Frischluft hereinzulassen. Die Füße hatte sie auf einen Schemel gelegt. Direkt vor der Tür hing ein Vogelhäuschen von der Dachrinne, auf dessen Rand kleine braune Vögel hockten. Eine weitere Reihe Vögel saß wie Wäscheklammern auf dem Stützarm. Ruby war eine winzige, verschrumpelte Frau mit einem kleinen, knochigen Gesicht und Armen wie dünne Stöckchen. Ihr weißes Haar war schütter, doch es sah aus, als hätte sie es erst kürzlich waschen und legen lassen. Sie wandte uns ein blaues Augenpaar zu und lächelte, so dass man die vielen Zahnlücken in ihrem Unterkiefer sah. Merry machte uns miteinander bekannt und erklärte, was ich wollte, bevor sie sich zurückzog.
»Sie sollten lieber mit Charles sprechen«, begann Ruby. »Er hat Dr. Purcell noch gesehen, nachdem ich ihm schon gute Nacht gesagt hatte.«
»Ich glaube nicht, dass ich schon von Charles gehört habe.«
»Er ist Pfleger im Nachtdienst. Vermutlich schwirrt er irgendwo hier herum. Er kommt gern früher zur Arbeit, damit er noch bei Mrs. Thornton und ein paar der anderen Mädels vorbeischauen kann. Sie spielen Gin-Romme um Pennys — da sollten Sie sie mal johlen hören. Wenn ich nicht schlafen kann, läute ich nach ihm, und dann setzt er mich in meinen Stuhl und fährt mich den Flur hinauf und hinunter. Manchmal gehe ich in den Personal-Aufenthaltsraum und spiele Schummeln mit ihm. Der Mann spielt einfach leidenschaftlich gern Karten. Ich esse immer hier in meinem Zimmer. Im Speisesaal gibt es Leute, die mir nicht besonders behagen. Eine Frau kaut mit offenem Mund. Das will ich nicht vor mir sehen, wenn ich esse. Es ist ekelhaft.
An dem Abend, nach dem Sie fragen — als ich den Doktor zum letzten Mal gesehen habe — , habe ich wie üblich meine Pillen genommen, aber nichts wollte helfen. Ich läutete nach Charles, und er meinte, er nähme mich auf die wilde Krötentour mit. So nennt er das. In Wirklichkeit wollte er rauchen, also hat er mich in der Halle abgestellt und ist hinausgegangen. Deshalb habe ich nämlich dort gesessen — damit Charles heimlich eine Zigarette rauchen konnte. Er versucht aufzuhören, und anscheinend bildet er sich ein, wenn niemand weiß, was er tut, dann zählt es nicht. Dr. Purcell erlaubt nämlich niemandem, hier drinnen zu rauchen. Er meint, es hätten ohnehin schon genug Leute Probleme mit dem Atmen. Das ist ein Thema, über das wir an diesem Abend gesprochen haben.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Fünf vor neun oder so. Wir haben nicht lange geplaudert.«
»Können Sie sich noch an etwas anderes erinnern?«
»Er sagte mir, dass ich schön sei. Das sagt er immer zu mir, obwohl ich manchmal denke, dass er ein kleines bisschen schwindelt. Ich habe nach seinem Jungen gefragt. Mir fällt jetzt nicht ein, wie er heißt.«
»Griffith.«
»Genau. Der Doktor hat seine Frau etwa einmal die Woche mit dem Kleinen zu uns zu Besuch kommen lassen. Natürlich hat sie ihn kein einziges Mal mehr gebracht, seit sein Daddy verschwunden ist. Mir ist aufgefallen, dass die Füße des Kleinen kaum je den Boden berührt haben. Sie haben ihn überall hingetragen, und wenn er etwas wollte, hat er darauf gezeigt und gegrunzt. Ich habe zum Doktor gesagt: >Er wird nie sprechen lernen, solange Sie ihn so behandeln<, und er hat mir
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