Tödliche Gier
auf sein Verschwinden gezeigt hatte. Ich beugte mich vor und umfasste ihre kalten Hände. »Ich weiß, dass das schwer für Sie ist. Lassen Sie sich Zeit.«
Sie holte tief Atem. »Verzeihung. Es tut mir Leid. Ich sollte Sie nicht so belasten. Ich hoffe nur einfach, dass er in Sicherheit ist. Mir ist egal, was er getan hat.« Sie hielt inne und drückte sich das Tüchlein gegen die Lippen. Dann holte sie erneut tief Atem. »Es geht schon wieder. Mir fehlt nichts. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Entschuldigen Sie vielmals.«
»Ich kann es verstehen. Nach allem, was ich gehört habe, muss er ein wunderbarer Mensch gewesen sein. Ich bin nur hier, um zu helfen. Das müssen Sie mir glauben. Ich bin nicht gekommen, um Arger zu machen.«
»Was wollen Sie?«
»Erzählen Sie mir einfach, was Sie wissen.«
Sie zögerte, da ihre Abneigung gegen Klatsch zu tief saß, um sie auf einen Schlag fallen zu lassen. Doch schließlich musste sie beschlossen haben, mir zu vertrauen, da sie noch einmal tief Luft holte und sich öffnete. »An diesem letzten Tag, da wirkte er bekümmert. Ich glaube, er hat sich Sorgen gemacht... Na ja, das ist ja wohl logisch. Mrs. Purcell... entschuldigen Sie, die Erste, also Fiona... kam vorbei, um ihn zu sprechen, aber da war er gerade beim Mittagessen. Sie wartete eine Weile, da sie dachte, er käme bald wieder, und dann hat sie ihm eine Nachricht hinterlassen. Als er zurückkam, hat er den Rest des Tages in seinem Büro gearbeitet. Ich weiß noch, dass er ein Glas Whiskey auf dem Schreibtisch stehen hatte. Das war schon später am Tag.«
»Ist er zum Abendessen auch weggegangen?«
»Ich glaube nicht. Er aß meist ziemlich spät oder hat das Abendessen ganz ausfallen lassen. Oft hat er abends am Schreibtisch eine Kleinigkeit zu sich genommen... Crackers oder Obst... vor allem, wenn seine Frau ausging und nicht kochte. Als ich an seine Tür klopfte, um ihm Gute Nacht zu sagen, saß er einfach nur da.«
»Hatte er Papiere vor sich liegen? Unterlagen oder Patientenakten?«
»Muss er wohl. Ich habe nicht darauf geachtet. Es lag nicht in seiner Natur, untätig zu sein. Das weiß ich.«
»Haben Sie sich unterhalten?«
»Nur die üblichen Floskeln. Nichts von Bedeutung.«
»Irgendwelche Anrufe oder Besucher?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Als ich am Montag darauf zur Arbeit kam, war sein Büro leer, was höchst ungewöhnlich war. Er war immer schon um sieben Uhr da, vor allen anderen. Da hatten die Gerüchte bereits zu kursieren begonnen. Irgendjemand — ich habe vergessen, wer — hat behauptet, dass er am Freitagabend gar nicht nach Hause gefahren sei. Zuerst gaben wir nicht viel darauf. Doch dann begannen sich alle den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er einen Unfall gehabt hatte oder krank geworden war. Als die Polizei erschien, bekamen wir es mit der Angst zu tun, aber wir rechneten immer noch damit, dass er in ein oder zwei Tagen gefunden würde. Ich habe wieder und wieder darüber nachgedacht, aber sonst gibt es absolut nichts zu berichten.«
»Habe ich nicht in der Zeitung gelesen, dass er an diesem Abend kurz mit einer alten Dame geplaudert hat, die in der Halle saß?«
»Das muss Mrs. Curtsinger gewesen sein. Ruby. Sie wohnt schon seit 1975 hier. Ich lasse Sie von Merry zu ihrem Zimmer führen. Aber ich möchte nicht, dass Sie sie aufregen.«
»Ich verspreche, dass ich das nicht tun werde.«
11
Merry begleitete mich den Flur hinab. Ich sah, wie die Essenswagen herangerollt wurden, ihre vertikalen Stellflächen voller Menütabletts für diejenigen, die lieber in ihren Zimmern aßen. Es war noch nicht einmal fünf Uhr, und ich vermutete, der Zweck der frühen Abendessenszeit war, alle drei Mahlzeiten eines Tages in einer langen Schicht unterzubringen.
»Erinnern Sie sich noch an die Schwester, die da stand, als Sie am Samstag gegangen sind?«, fragte Merry. »Sie heißt Pepper Gray. Jedenfalls hat sie angefangen, einen ganzen Haufen Fragen über Sie zu stellen. Ich habe aber nichts ausgeplaudert, sondern nur gesagt, dass Sie heute wieder kämen, um mit Mrs. S. zu sprechen. Sie hat mich ziemlich zur Schnecke gemacht und gemeint, ich solle mit niemandem über die Klinik sprechen. Ich war stinksauer. Sie hat überhaupt nicht das Recht, so mit mir zu reden. Sie arbeitet ja nicht mal in meiner Abteilung.«
»Was glauben Sie, was sie mitbekommen hat?«
»Ganz egal. Es geht sie nichts an. Ich fand nur, Sie sollten darüber Bescheid wissen, falls wir ihr
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