Tödliche Legenden Sammelband 1 (German Edition)
dort aus gab es bestimmt auch Zugänge zu den Türmen. Eigentlich wollte Leyla ja den Zugang nach unten suchen, aber jetzt fiel ihr das riesige Gemälde auf, das dort hing, wo sich die Treppe teilte. Im flackernden Licht konnte sie sehen, dass das Motiv noch zu erkennen sein musste. Also stieg sie vorsichtig die knarrende Treppe herauf. Da sie im flackernden Licht nicht viel erkennen konnte, nahm sie wieder ihre Taschenlampe zur Hand und leuchtete das Bild ab. Es zeigte eine zierliche Frau mit schwarzen Locken und stechenden dunklen Augen. Sie war blass, ihre Haut war fast weiß, ihre Mine sehr ernst. Sie trug ein mit goldfarbenem Garn besticktes, weit fallendes schwarzes Kleid, darüber einen dunkelgrünen Umhang. Das Bild sah aus, als wäre es erst gestern gemalt worden. Es passte nicht zum Rest der Burg. Der goldene Rahmen aber war voller Staub und Dreck. Leyla tastete ihn ab, und spürte eine kleine Erhöhung. Sie wischte den Dreck zur Seite und eine Plakette kam zum Vorschein.
„Lady Freya Berrywood“, las sie vor. Das war sie also, die Frau des jung verstorbenen Lord John Berrywood. Angeblich hatte sie nach seinem Tod jahrelang alleine hier gelebt, mit nur einer Handvoll Bediensteter. Gerüchten zufolge war sie von ihm schwanger gewesen, aber es wurde nie ein Kind auf Berrywood Castle gesehen. Kurz nach dem Tod des Lords verschwanden aber Kinder aus den umliegenden Siedlungen, weshalb die Bewohner sie nach und nach verließen. Im Laufe der Jahre verfielen diese, heute waren nur noch ein paar vereinzelte Farmen übrig. Von einer davon aus hatte sie sich herbringen lassen. Als sie ihre Hand ausstreckte, um nach der Farbe des Bildes zu fühlen, hörte Leyla plötzlich ein leises, regelmäßiges Tropfen hinter sich. Zögernd drehte sie sich um. Eine kleine Lache hatte sich unter dem Kronleuchter gebildet. Mitten in dieser Lache saß jemand mit gesenktem Kopf. Es war eine weibliche Gestalt mit langen, hellen Haaren. Sie kniete und war so nach vorn gebeugt, dass ihr Gesicht von ihren Haaren verdeckt wurde. Leyla fuhr zusammen. Wie kam die Frau hierher?
„Hey Miss, hören Sie mich?“, fragte sie und stieg die Treppe wieder herab. Aber die zitternde Frau rührte sich nicht. Als Leyla ihre Taschenlampe auf sie richtete, konnte sie die Farbe der Lache erkennen. Sie war rot. Blutrot. Und es tropfte immer noch von der Decke herab. Das war definitiv nicht das Kerzenwachs. Zögernd leuchtete Leyla zum Kronleuchter herauf. Dann ließ sie mit einem lauten Aufschrei ihre Taschenlampe fallen, schlug sich beide Hände vor den Mund und taumelte rückwärts. Währenddessen stand die zitternde Frau auf, warf ihre Haare nach hinten und deutete mit vorwurfsvollem Blick nach oben. Wie achtlos hingeworfen hing ein kleiner, zarter Körper im Kronleuchter.
„Befrei sie!“, schrie die Frau wütend, während weiterhin das Blut heruntertropfte. Aber es traf sie nicht. Es tropfte durch sie hindurch. Als Leyla mit dem Rücken gegen das Bild stieß, durchfuhr sie ein eiskalter Schauer. Aber anders als sonst. Etwas Kaltes schob sich von hinten durch sie hindurch, so kalt, dass ihr kurz schwarz vor Augen wurde. Sie hörte einen wütenden Schrei und kämpfte darum, die Schwärze zu vertreiben. Als es ihr endlich gelang, hatte das Tropfen aber schlagartig aufgehört. Zitternd stolperte sie die Treppe wieder herab, zum Lichtkegel ihrer Taschenlampe. Sie brauchte drei Anläufe, bis ihr die Lampe nicht wieder aus der Hand fiel. Sie zwang sich, wieder ruhiger zu atmen, dann leuchtete sie die Halle wieder ab. Aber da war nichts mehr. Keine Frau, keine Blutlache, kein kleiner Körper auf dem Kronleuchter.
„Spinne ich jetzt?“, fragte sie sich selbst. Das war unmöglich, sie hatte nur wenige Sekunden nicht sehen können. So schnell konnte niemand etwas inszenieren und wieder verschwinden lassen. Und was zur Hölle hatte die Frau gesagt? Rette sie? Leyla leuchtete nochmal zum Kronleuchter herauf. Er war an einer Kette befestigt, an der man ihn herauf und herunter ziehen konnte. Aber das würde nie im Leben nur wenige Sekunden dauern, geschweige denn so lautlos sein. Ihr erster Impuls war wegrennen, aber der Farmer würde erst bei Sonnenaufgang zurück sein. Zum Schwimmen war die Insel zu weit vom Festland weg. Sie saß hier fest, entgegen allem, was sie glaubte, wahrscheinlich tatsächlich mit echten Geistern. Aber was war es, was ihr die Sicht genommen hatte? Es kam, als sie mit dem Rücken gegen das Bild gestoßen war. Also schaute sie zum
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