Toedliche Luegen
während sie ungeduldig auf das gleichmäßige Tuten horchte. Die Befürchtung, die Psychologin könn te nicht erreichbar sein oder Alain würde vorher weggebracht, schnürte ihr die Kehle zusammen. Endlich fiel ein zentnerschwerer Stein von ihrer Brust und schnaufend holte sie Luft. Isabelle Didier meldete sich am anderen Ende der Leitung, schlaftrunken zunächst, allerdings schon in der nächsten Sekunde hellwach, als Beate hysterisch in den Hörer brüllte: „Helfen Sie Alain! Sie wollen ihn ins Gefängnis bringen!“
Schlag artig fühlte sie die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gerichtet. Sie zuckte schnippisch mit der Schulter. Isabelle würde ihr diese Lüge schon verzeihen.
„Sie müssen sofort nach Paris kommen! … Es war ein Unfall. … Ja, Pierre. Oh, bitte, Isabelle, beeilen Sie sich! Er überlebt es nicht, das wissen Sie. … Nein, das kann er nicht. Er ist … er ist verletzt. … Die werden mir das nicht glauben!“
Während Tränen der Erleichterung über ihre Wangen rollten, lauschte sie angestrengt der Antwort der Polizeipsychologin in Brest. Sie nickte und murmelte einen Fluch, bevor sie den Telefonhörer an den älteren Poli zisten weiter reichte. „Sie möchte mit Ihnen reden.“
Den Blick erwartungsvoll auf Vic Meunier gerichtet, trat Beate dicht an ihn heran, bemüht keines seiner Worte zu verpassen. Zunächst jedoch redete nicht er, sondern Isabelle Didier im fernen Brest. Der Mann hörte ihr mit gelassener Miene zu. Stellenweise hatte es fast den Eindruck, als belustige ihn der Monolog dieser Frau. Dann wieder legte Vic Meunier missmutig die Stirn in Falten, w agte indes nicht, der Psychologin zu widersprechen. Schließlich beugte er sich über das Faxgerät, das neben Pierres Schreibtisch unter dem Fenster stand, und las laut die Nummer ab. Artig verabschiedete er sich anschließend von Isabelle Didier und legte mit einem ungehaltenen Grunzen den Hörer auf die Feststation des Telefons.
Weiber! Warum mussten sie derart penetrant sein, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollten! Das hatte er nicht bloß bei seiner ersten Frau festgestellt. Auch bei der zweiten war es nicht anders gewesen und ob Marie die viel gerühmte Ausnahme sein würde, müsste sich erst herausstellen.
Die Ärztin war gerade dabei , Alains Verletzungen notdürftig zu versorgen, indem sie ihm einen Eisbeutel auf das Jochbein legte und die Platzwunden reinigte, als das Fax-Gerät ein von Hand beschriebenes Blatt ausspuckte. Vic Meunier riss den Zettel an sich, überflog den Text und schüttelte dann mit einem Ausdruck der Missbilligung den Kopf.
Ohne dass Beate ihr Kommen richtig wahrgenommen hatte, wimmelte es in der Villa mit einem Mal von fremden Menschen. Die Streifenpolizisten räumten das Feld ebenso wie die Notärztin mit ihrem Rettungssanitäter und machten Platz für die Männer der Spurensicherung und Mordkommission der Pariser Kriminalpolizei. Nur noch wie durch einen trüben Schleier registrierte Beate das Geschehen um sich. Sie fühlte sich ungefragt in einen Traum katapultiert, in einen wahrhaft schrecklichen Albtraum, der spätestens mit den ersten Sonnenstrahlen am Morgen zu Ende sein würde.
Aber dann kam wieder die Leiche ihres Vaters auf dem Boden in ihr Blickfeld, Alain, der vollkommen apathisch, mit hängenden Schultern und mehreren Pflastern im Gesicht und einem Verband um den Oberarm in einer Ecke lehnte, und die Männer in weißen Overalls und Polizeiuniformen, die gleich damit beginnen würden, das Arbeitszimmer auf den Kopf zu stellen, um das Unterste zuoberst zu kehren.
Es war kein Traum, sondern die grausame Wirklichkeit! Diese Katastrophe war real und hatte mit ihrer unvorstellbaren Brutalität sämtliche Illusionen von einer heilen Welt zerstört.
„Ihr könnt ihn in die Gerichtsmedizin bringen. Meldet euch bei Doktor Lande. Er weiß Bescheid“, hörte Beate den Anführer der Truppe zu zwei Männern in den Overalls sagen.
Erneut liefen ihr Tränen über die Wangen. Ein letztes Mal betrachtete sie ihren Vater, bevor er in einem schwarzen Leichensack auf eine Bahre gehoben und aus dem Zimmer geschoben wurde. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie bei seinem Anblick Trauer oder Hass empfinden sollte. Wahrscheinlich würde sie es nie verstehen.
So unerwartet und plötzlich, wie Pierre Germeaux in ihrem Leben aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Zurück blieb sei ne mit Kreide auf dem Boden nachgezogene Silhouette.
Und wo war ihr Platz in
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