Tödliche Mitgift
ihre Bekannten und Kollegen nicht gehen würden«, überlegte Pia laut. »Trotzdem wird sie sich auf ihr vertrautem Terrain verabredet haben. In einem Laden, an dem sie vielleicht öfter vorbeigeht.«
»Und wenn sie sich bei ihr zu Hause getroffen haben?«, warf der blonde Kollege ein.
»Möglich, aber eher unwahrscheinlich«, sagte Pia.
»Frauen sind da eher vorsichtig«, bestätigte die Polizistin. »Sie wählen lieber öffentliche Orte, wenn sie sich mit Männern treffen, die sie nicht besonders gut kennen.«
»Okay«, meinte er, »wir haben die Fotos und werden herausfinden, ob irgendjemand die beiden zusammen gesehen hat …«
Pia registrierte den leisen Zweifel in seiner um Neutralität bemühten Stimme.
»Genau. Sie haben Krolls Bild aus seiner Kriminalakte. Das Foto der Behring ist aus der Zeitung. Es ist nicht besonders gut, doch man erkennt sie darauf. Sie ist eine auffallend hübsche, gut gekleidete Frau, circa eins siebzig groß. Sie fällt garantiert auf, wenn sie eine Kneipe betritt, in der Marcel Kroll nicht auffällt.«
»Dann werden wir mal«, sagte die junge Kollegin munter.
Pia sah ihnen nach, als sie den Raum verließen. Gut standen ihre Chancen nicht gerade, weil inzwischen zu viel Zeit verstrichen war. Trotzdem wäre sie gern selbst mit hinausgefahren.
Sie seufzte leise und setzte sich an den Schreibtisch. Hatte sie etwas vergessen? Sie saß unentschlossen da, ließ in Gedanken die letzten Ermittlungstage Revue passieren und bemerkte, wie sie sich mit dem oberen Ende ihres Kugelschreibers gegen die Vorderzähne tippte. Entschlossen legte sie den Stift auf dem Tisch ab. Es fehlte noch, dass sie sich einen nervösen Tick zulegte, wie Gabler ihn hatte.
Trotzdem: Kroll und Charlotte Behring? Kroll und Ole Dreyling? Kroll und Regina oder John Dreyling? Kroll und Matthias Nowak? Bianca Nowak? Bernhard Löwgen? Caterina Nowak? Deren Eltern? Sie alle standen mit Annegret Dreyling in Verbindung. Der oder diejenige, die außerdem mit Marcel Kroll in Verbindung stand, war vielleicht auch an dem Mord an der jungen Frau beteiligt. Dann würde ihnen allen auch das schönste Alibi nichts mehr nützen … Denn das hatten sie alle: ein Alibi für den Zeitpunkt, als Annegret Dreyling in ihrem Hotelzimmer die Kehle durchgeschnitten worden war. Von Marcel Kroll?
Pia griff zum Telefonhörer und wählte Meiers Telefonnummer im Hamburger Präsidium. Sie hatte Glück, er war an seinem Platz und meldete sich gleich.
»Sehen wir uns morgen zur Vernehmung von Kroll hier im Kommissariat?«, fragte Pia nach ein paar einleitenden Sätzen.
»Nein, ich werde wohl nicht dabei sein können.«
»Ich habe eine Bitte an Sie, Herr Meier.«
»Nur raus damit!«
»Können Sie sich Marcel Krolls Akte vor unserer Befragung noch einmal vornehmen? Ich möchte wissen, ob Kroll mit bestimmten Personen in Kontakt gestanden haben könnte.«
»Kein Problem. Gibt es etwas Neues im Fall Dreyling?«
»Nein. Ich lasse gerade überprüfen, ob Kroll hier in Lübeck mit der Anwältin der Familie Dreyling zusammen gesehen worden ist. Aber um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, fehlen uns die nötigen Ressourcen. Es gibt noch ein paar weitere Personen, die Kroll beauftragt haben könnten.«
»Um wen geht es denn?«
Pia nannte ihm die Namen.
»Gut, Frau Korittki. Wenn ich etwas finde, melde ich mich bei Ihnen.«
Sie dankte ihm und legte mit dem vagen Gefühl auf, zumindest an einem der Steine am Hang gerüttelt zu haben. Vielleicht ließ sich ein kleiner Bergrutsch auslösen?
Nein!, dachte Bernhard Löwgen, als er das verkohlte schwarze Ding in der Ecke sah. Und dann, nein, nicht schon wieder, als er es kommen fühlte. Er hasste den Kontrollverlust, den eine Kataplexie mit sich brachte. Seine Knie wurden weich; er tastete noch nach einem Halt, strauchelte und fiel hilflos zu Boden. Vor seinem Schreibtisch liegend, von der Kata zur Bewegungsunfähigkeit verdammt, roch er den durchdringenden Geruch umso intensiver. Brandgeruch – verschmortes Plastik und angekokeltes Holz. Wie damals am Lagerfeuer. Feuer! Bei dem Gedanken, dass der Brand wider Erwarten noch schwelte und jederzeit wieder auflodern konnte, während er bewegungslos dalag, fuhr ihm ein Stoß Adrenalin durch seine Adern. Die Befürchtung, im Schlaf oder während einer Kataplexie von einem Feuer überrascht zu werden, begleitete ihn, seit er von seiner Krankheit wusste. Er keuchte und sah hilflos zu, wie ein klumpiges, verschmortes Kabel vor seinen Augen
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