Tödliche Mitgift
einen Moment von dem eigentlichen Grund ihres Hierseins ab. Auf der Piazza Quattro Novembre sah sie sich den von Touristen umlagerten Brunnen, die Fontana Maggiore, an, und ging am Portal des Doms vorbei, bis sie auf einem kleineren Platz stand, an dem sich ein paar Andenkenläden befanden. Pia kaufte einen Stadtplan und eine Flasche Mineralwasser. Der Blick vom Corso Vanucci durch die Torbögen in die dunklen Seitenstraßen und Gassen hatte ihre Neugier geweckt, und sie beschloss, auf anderen Wegen zurückzugehen. Sie wandte sich nach links, in eine der ruhigeren Seitenstraßen, wo sich die Fassaden der Häuser eng gegenüberstanden und es trotz der sommerlichen Hitze nach alten, kühlen Steinen roch. Nach ein paar Schlenkern durch schattige Nebenstraßen kam sie zu dem belebten Platz vor dem Dom zurück, wo sie sich auf den Steinstufen niederließ und sich die Wasserflasche an den Hals setzte, sie in einem Zug austrank und in einen Abfallkorb warf. Pia ließ ihren Blick unschlüssig über die Gesichter der Touristen und jungen Leute, wahrscheinlich Studenten, hinweggleiten. Die meisten sahen sorglos und unbekümmert aus. Vielleicht hatten sie von dem Mord an einer deutschen Touristin im Guarini gelesen oder gehört, doch es betraf sie nicht.
Pia erkannte, dass es so nicht funktionierte. Sie konnte diese Stadt nicht wie eine Touristin erkunden, nicht einmal für eine halbe Stunde. Sie war hier, weil ein Mensch gestorben war, und zwar einen grausamen, gewaltsamen Tod. Die Aufklärung dieser Tat war das Mindeste, was sie dem Opfer schuldig war. Es würde das Beste sein, wenn sie jetzt den Corso Vanucci hinunter und auf direktem Weg zur Questura zurückging. Außerdem war sie hungrig geworden und erinnerte sich, dass sie auf dem Hinweg an ein paar Pizzerien vorbeigekommen war. An einer kaufte sie sich ein Stück Pizza und eine zweite Flasche Wasser. Die Pizza auf einer Serviette in der Hand, ging sie zu den Rolltreppen. Die salzige Pizza und das Wasser würden ihren Mineralhaushalt wieder ins Lot bringen. Die Scala mobile war voller Menschen. Um diese Uhrzeit strömten die Leute sowohl aus der Innenstadt hinunter als auch hinauf. Vielleicht hätte sie ihn früher entdeckt, wenn sie nicht das fettige Stück Pizza in der Hand gehabt hätte, dessen Verzehr einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wollte sie nicht mit Flecken auf dem T-Shirt zur anschließenden Besprechung erscheinen. Der Mann, der ihr von unten entgegenfuhr, blickte zur Seite, zu den beleuchteten, etruskischen Mauerresten, sodass sie ihn nur im Profil sehen konnte.
Er sah exakt aus wie … Marten Unruh. Nein, er konnte es nicht sein! Das war nur jemand, der ihm zufällig ähnlich sah. Der Schreck über diesen Anblick, vertraut und fremd zugleich, schlug ihr augenblicklich auf den Magen. War er es, oder war er es nicht? Sie hatte Marten seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen.
Es ging zu schnell. Der Mann glitt auf der Rolltreppe an ihr vorbei, den Kopf immer noch abgewandt und ohne ein Zeichen des Erkennens. Es war nur eine flüchtige Ähnlichkeit. Der Fremde hatte das gleiche scharf geschnittene Profil, die Linien, die sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln eingegraben hatten und auf Magenprobleme hindeuteten, wie sie mal gehört hatte. Typen wie diesen musste es zu Tausenden geben …
Pias Gedanken wanderten zurück und verhakten sich in der Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit Marten. Es war in ihrer Wohnung gewesen. Ein warmer Sommertag, diesem nicht unähnlich. Marten hatte in Lübeck auf ihrem Küchenbalkon gestanden, eine Zigarette in der Hand, den Blick nachdenklich zur Seite gewandt, in Richtung Dom. Sie sah dieses Bild in der Erinnerung realistischer vor sich als die Menschen, die in diesem Augenblick in den Schächten aus Stein und Stahl im Neonlicht wie sie die Rolltreppe benutzten. Wenn er es wirklich gewesen wäre, wäre ich mir jetzt sicher, dachte sie. Der Mann war kaum einen Meter von ihr entfernt an ihr vorbeigefahren. Sie hätte nur die Hand nach ihm ausstrecken müssen. Doch der Moment war verstrichen, der Mann fuhr hinauf, sie hinunter. Sie zuckte, tat einen unbedachten Schritt rückwärts, doch die Menschen hinter ihr bildeten eine feste Barriere und zwangen sie nach unten. Als die Rolltreppe sie auf den nächsten Zwischenabsatz entließ, war der Mann nicht mehr zu sehen. Die Sekunden verstrichen und verwischten das Bild, das Pia vor ihrem inneren Auge festzuhalten versuchte.
Die Peinlichkeit, jetzt
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