Tödliche Mitgift
Lebensmittel-Discounter. Es fiel ihm leichter, dort etwas zu klauen, als in den kleinen Lebensmittelgeschäften. Ein Discounter war anonym. Nun, so ganz ohne Bargeld war es wesentlich schwieriger, sich etwas zu essen zu besorgen. Bisher hatte er beim Passieren der Kasse immer ein paar Kleinigkeiten im Wagen gehabt, die er hatte bezahlen können, und den Rest unter seiner Baumwolljacke verborgen. Wenn er gar nichts kaufte, würde er mehr Aufmerksamkeit erregen. Und er sah zunehmend auffällig aus, abgerissen und schmutzig mit dem schwarz gefärbten, selbst gestutzten Haar und den Bartstoppeln.
Beim Betreten des klimatisierten Supermarktes wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er fühlte sich mittlerweile zu schwach, um die Sache durchzustehen. Wenn er sich an eine Ecke hocken und betteln würde, kam vielleicht mehr dabei heraus. Das Angebot in einem gewöhnlichen Supermarkt überwältigte ihn, so ausgehungert wie er war. Ein ganzes Brot ließ sich schlecht verbergen … Trotzdem griff er wie magnetisch davon angezogen danach, fühlte den weichen, schweren Laib, nahm den verlockenden Duft wahr … Es war unmöglich. Seine Hand glitt zurück, er verschränkte die Hände vorsichtshalber hinter seinem Rücken. Ein Plan – denk nach!, ermahnte er sich.
Ein Angestellter des Marktes, der neben ihm Ware ins Regal räumte, hielt in der Bewegung inne und musterte ihn. »Posso esser Le utile?«
»No, grazie.« Er benötigte keine Hilfe. Und er benahm sich zu auffällig, so wurde das hier heute nichts mehr. Mit stechenden Magenschmerzen und schwach vor Hunger, verließ er das Geschäft. Neben dem Eingang stand ein Ständer mit frischem Obst und Gemüse. Wenigstens etwas … Ohne sich umzusehen, ohne auch nur zu wissen, was er da überhaupt tat, griff er zu und bekam ein Bund Möhren zu fassen, das ganz vorn lag. Er versuchte, die Möhren unter seiner Jacke zu verstauen. Idiot, mit dem Grün daran!
Bernhard Löwgen hörte eine laute Stimme rufen und sah, dass der Angestellte ihm nach draußen gefolgt war. Der Mann packte ihn am Arm, umklammerte ihn. Mit jener Kraft, die der Panik entspringt, riss Löwgen sich los und stolperte in Richtung Parkplatz. Ein weißer Van konnte im letzten Moment mit quietschenden Reifen vor ihm stoppen. Kurz blickte er in die weit aufgerissenen Augen der Frau am Steuer, dann rannte er los. Er wunderte sich, dass er das überhaupt noch konnte, in der schlechten körperlichen Verfassung, in der er sich befand, doch das Adrenalin schien seine letzten Reserven zu mobilisieren. Er quetschte sich durch parkende Autos hindurch, vorbei an Menschen, die voll beladene Einkaufswagen vor sich her schoben. Das Geräusch der Schritte hinter ihm signalisierte ihm, dass man ihm weiter nachjagte. Wegen ein paar Möhren, unfassbar! Es ging denen wohl ums Prinzip. Er hastete eine Anhöhe hoch, die hinter dem Parkplatz steil anstieg, kämpfte sich durch dorniges, verbranntes Gestrüpp und stolperte über leere Plastikflaschen. Am oberen Ende des Areals zog sich ein Drahtzaun entlang, den hatte er sich am Vortag bereits näher angesehen. Er hörte den keuchenden Atem seines Verfolgers, der ihn jetzt in der Falle wähnte. Zuschauer gab es dort unten wahrscheinlich auch zur Genüge. Wo war noch das verdammte Loch im Zaun?
Bernhard Löwgen fand die Öffnung im letzten Moment, hechtete hindurch und rannte in Richtung der Wohnhäuser, wo er sich zwischen den Schuppen und Garagen gut verbergen konnte. Hinter ihm war nun alles ruhig. Hatte sein Verfolger aufgegeben, oder lauerte er noch irgendwo? Wahrscheinlich hatte er keine Lust gehabt, ebenfalls durch das Loch zu kriechen und dabei Gefahr zu laufen, seine schöne weiße Hose mit Hundekot zu beschmutzen. Der gute Mann würde jetzt wohl die Bullen rufen. Wegen … eines Bunds Möhren. Löwgen betrachtet seine Beute mit einer Mischung aus Galgenhumor und Verzweiflung. Ein toller Dieb war er … Möhren! Er biss ein Stückchen von einer Möhre ab, kaute und versuchte zu schlucken. Sein leerer Magen revoltierte, als er in Kontakt mit dem rohen Gemüse kam. Bernhard würgte und spuckte es wieder aus. Angewidert betrachtete er die orangefarbenen, feuchten Stückchen im Staub. Er lebte im Freien, er hatte eine beschissene Angst, er verkroch sich vor allem und jedem und war ständig auf der Flucht. Trotzdem war er noch lange kein verdammtes Karnickel!
Doch selbst wenn er heute Abend in den Müllcontainern noch etwas Essbares finden würde – er war mit dieser Tour
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