Tödliche Mitgift
traurig nicht den Umstand, dass kein Geld da war. Ich meine die Kälte und die Gleichgültigkeit … Annegret hat mir erzählt, dass ihre Mutter sie und ihren Bruder, als sie noch klein waren, oft tagelang allein gelassen hat. Ihr Bruder hat im Supermarkt etwas zu essen für sie beide klauen müssen … Dann kam diese Frau – ›Mutter‹ ist echt zu viel gesagt – mit irgendwelchen Männern zurück, die manchmal nur Stunden, manchmal wochenlang blieben. Matthias musste Annegret sogar ab und zu vor den Übergriffen dieser sogenannten Onkel beschützen.«
Pia schwieg betroffen. Sie hatte Derartiges bereits befürchtet, ohne es sich so richtig bewusst gemacht zu haben. Schon nach dem ersten Kontakt mit Bianca Nowak hatte sie einen Psychologen zurate ziehen wollen, es später dann aber vergessen. Mit einem Mal sah sie auch Ole Dreyling mit etwas anderen Augen und relativierte ihre Einschätzung, es mit einem Schwächling zu tun zu haben, der mit seinem Geld und seiner Herkunft eine hübsche Frau beeindruckt hatte. Sie erkannte seinen verzweifelten Versuch, etwas zu retten, was wohl nicht mehr zu retten gewesen war. Später war er dann wohl doch unter dem Druck seiner Familie eingeknickt und hatte, wie schon so viele vor ihm, Annegret verraten. Und diese hatte darauf reagiert, wie sie sicher schon immer auf einen Verrat reagiert hatte, und sich sofort einen neuen Beschützer gesucht. »Sagt Ihnen der Name Bernhard Löwgen etwas?«, erkundigte sich Pia.
»Nein, sollte er?«
»Vielleicht. Er hatte sich zusammen mit Ihrer Frau in dem Hotel in Perugia eingecheckt.«
»Ich habe schon davon gehört, dass Sie nicht allein dort war«, erwiderte Dreyling bitter. »Meine Mutter hatte es anhand der Kreditkartenabrechnung herausgefunden.«
»Woher haben Sie die Informationen über die Verhältnisse in Annegrets Familie?«, hakte Pia noch einmal nach.
»Von beiden«, sagte Ole Dreyling und starrte aus dem Fenster, »Matthias hat es mehrmals angedeutet, Annegret hat mir auch davon erzählt. Bis zu dem Zeitpunkt war mir gar nicht klar, dass es so etwas in meiner näheren Umgebung tatsächlich gibt.«
»Was glauben Sie, wer Ihre Frau in Perugia ermordet hat?«
»Dieser andere natürlich. Der Mann, mit dem sie dort war und der auch in dem Hotel gewohnt hat. Bestimmt war es derselbe, der sie vorher schon verfolgt hat. Wer denn sonst?«
»Haben Sie eine Vermutung, was das Motiv gewesen sein könnte?«
»Natürlich. Er hat herausgefunden, dass Annegret nur mich geliebt hat!«
Der Mann, gegen den diese Anschuldigungen erhoben wurden, traf wenige Tage später wieder in Deutschland ein. Am Tag seiner Vernehmung saß Bernhard Löwgen auf dem Stuhl am Besprechungstisch wie ein Opfer der heiligen spanischen Inquisition, eine rundliche, aber nicht gemütlich wirkende Anwältin aus der Kanzlei Dr. Schneyder an seiner Seite. Er sah blass und mitgenommen aus, war aber außerordentlich gut vorbereitet.
»Nein, mein Verhältnis zu Annegret Dreyling ist zu jedem Zeitpunkt rein platonisch gewesen … Von der Verwicklung der Nowaks in den illegalen Kunsthandel habe ich zunächst nichts gewusst … Von der ganzen Aktion und dem Lagerort habe ich erst später und nur zufällig erfahren … Nein, ich war nicht darin verwickelt. Bei der Vernehmung in Italien hatte man mich unter Druck gesetzt … Warum ich untergetaucht bin? Ich war in Panik … Die deutsche Kommissarin wollte ich nur um Hilfe bitten … Sie hat überreagiert, als ich sie im Park angesprochen habe … Nein, an eine Glasscherbe kann ich mich nicht erinnern …«
Pia schnaubte wütend, doch Horst-Egon Gabler verzog keine Miene. Die Anwältin trommelte mit kadmiumroten Fingernägeln auf der zerkratzten Tischoberfläche herum.
»Sie haben außerordentliches Glück«, sagte Gabler schließlich. »Kollegen in Hannover haben über Aushänge in den Studentenwohnheimen am Herrenhäuser Garten zwei Studentinnen gefunden, die Ihre Angaben bestätigen, was die Zeitspanne und den Ort Ihres gemeinsamen Essens in Perugia angeht.«
Die Anwältin hörte auf zu trommeln und nickte befriedigt. Über Löwgens Gesicht huschte ein schwaches Lächeln. Was für ein wundervolles Alibi, dachte Pia, und genau zum richtigen Zeitpunkt.
Am Nachmittag desselben Tages zeigte die interne Nachfrage nach dem Phantombild aus Perugia erstmals eine Reaktion. Ein Kollege aus Hamburg meldete sich per Mail und äußerte die Vermutung, anhand des Phantombildes möglicherweise jemanden zu erkennen. Pia griff sofort
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