Tödliche Nähe
sie mit gedämpfter Stimme.
»Wie bitte?«
»Deiner Cousine. Ist die Ähnlichkeit zwischen uns beiden wirklich so groß?«
Nia betrachtete Lenas Gesicht und verspürte einen Stich im Herzen. »Ja, du siehst ihr sehr ähnlich«, antwortete sie leise.
»Tut mir leid.«
»Na ja, ist ja nicht deine Schuld.« Und weil der Gedanke an Joely so sehr schmerzte, stellte sie ihrerseits ein Frage zurück: »Kannst du wirklich spüren, dass ich dich angucke?«
»Merkst du es nicht, wenn dich jemand anstarrt? Ich tue es jedenfalls.« Schulterzuckend legte Lena den Apparat auf den Tisch neben sich. »Wenn man Zeit seines Lebens fast nichts sehen kann, achtet man mehr auf seine anderen Sinneswahrnehmungen.«
»Dann warst du also nicht immer blind?« Kaum, dass sie dies ausgesprochen hatte, fuhr Nia zusammen. »Oh, verdammt, tut mir leid. Das war unhöflich.«
»Schon gut.« Lena zuckte nur mit den Schultern. »Das macht mir nichts aus. Ja, früher konnte ich sehen, zumindest auf einem Auge. Ich bin mit PHPV auf die Welt gekommen – das ist die Abkürzung für Persistierender hyperplastischer primärer Glaskörper. Sie grinste. »Versuch das mal mehrmals schnell hintereinander zu sagen. Davon war nur mein linkes Auge betroffen. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr, konnte ich mit rechts wunderbar sehen.«
Sie nahm die Brille ab und zeigte Nia ihre blassen, nahezu kristallblauen Augen. »Bei Menschen mit einseitiger Sehbeeinträchtigung ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie bei einem Unfall auch das Augenlicht auf der anderen Seite verlieren, jedoch zehnmal so hoch wie bei anderen. Wusstest du das? Und ich war immer eins von diesen Kindern, die nicht anders sein wollten als ihre Kameraden. Meine überängstliche Mutter hätte mich dagegen am liebsten in Watte gepackt, auf ein Regal gestellt und dort für den Rest meines Lebens sicher verwahrt. Aber das habe ich nicht zugelassen und bei jeder Gelegenheit genau das Gegenteil von dem gemacht, was sie von mir wollte, zum Beispiel Baseball gespielt, ohne die dafür vorgesehene Schutzbrille zu tragen. Und eines Tages habe ich dann den Ball abgekriegt. Das reichte schon.« Sie beendete ihre Erzählung und grinste schief.
Wie zum Teufel konnte sie diese Geschichte bloß mit einem Lächeln erzählen? Nia starrte sie fassungslos an. »Mein Gott, das tut mir total leid.«
Lena lachte. »Warum? Du bist nicht dafür verantwortlich, dass ich keine Brille tragen wollte.«
»Aber du warst erst zehn !« Nia schnaubte.
»Ja, ich war zehn. Kinder glauben einfach noch nicht daran, dass ihnen irgendetwas zustoßen könnte.« Seufzend setzte Lena die Brille wieder auf. »Und im Grunde möchten auch viele Erwachsene nicht wahrhaben, dass dies selbst für sie nicht seine Gültigkeit verliert. Doch da irren sie sich gewaltig. Wie auch immer, das Ganze war jetzt nicht der Weltuntergang für mich. Ich kann nicht behaupten, dass es mir das Leben versaut hätte. Es hat alles verändert, ja, aber wenn ich mir angucke, wie es jetzt läuft, muss ich sogar sagen, zum Besseren. Wäre ich sonst da, wo ich jetzt bin, verheiratet mit Ezra, mit einem Beruf, den ich liebe, wenn alles anders gelaufen wäre?«
»Meine Güte, bist du optimistisch«, murmelte Nia.
Hinter ihr lachte Law laut auf, und sie drehte sich überrascht zu ihm um.
Schmunzelnd hob er den Kopf. »Lena ist so ziemlich der ›unoptimistischste‹ Mensch, den ich kenne. Sie schätzt die Dinge bloß realistisch ein.«
Lena schnitt ihm eine Grimasse. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Er hat recht, ich bin eigentlich so gar kein optimistischer Mensch. Aber ich liebe mein Leben, wie es jetzt ist. Und ich würde nichts daran ändern wollen. Vor allem nicht, wenn das hieße, dass Ezra nicht Teil davon wäre.«
»Das ist so süß!« Hope lächelte.
»Oh ja, ich bin ein richtiges Honigkuchenpferd.« Schnaubend griff Lena wieder nach ihrem Palm.
»Ich finde es jedenfalls süß. Und romantisch.« Hope zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf das Schachbrett. »Ich meine, es gibt bestimmt nicht viele Leute, die so etwas über sich sagen könnten – die meisten würden alles dafür geben, den Fehler in der Vergangenheit wieder rückgängig zu machen, nicht wahr? Dein Leben hätte so viel einfacher verlaufen können. Aber das schert dich nicht, weil Ezra es dir wert ist.«
»Es geht mir ja nicht nur um ihn«, erwiderte Lena etwas verlegen, zuckte dann jedoch nur mit den Schultern. »Aber ja, er ist es wert. Und du, würdest du
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