Toedliche Offenbarung
immer noch zu früh dran. Die Mackenrodt ist nach dem langen Wochenenddienst noch nicht zu erreichen, auch bei Rechtsmediziner Schmidt hebt niemand ab. Dafür ist die Polizeiinspektion in Burgdorf bereits besetzt. Borgfeld und Streuwald haben einen Anruf erhalten, dass Broderichs vermisstes Motorrad in einem Fischteich in der Nähe von Neuwarmbüchen gefunden wurde und einen weiteren, dass das Labor des Landeskriminalamtes dringend um Rückruf bittet.
»Wir fahren zum Teich«, verkündet Streuwald Beckmann am Telefon.
Nichts ist nahe liegender, als dass Beckmann das Labor übernimmt, zumal er sowieso in Hannover ist. Er wählt zögerlich die Nummer – das erste Mal seit über zwei Monaten. Nach mehrmaligem Klingeln meldet sich eine ihm unbekannte Mitarbeiterin des LKA, die ihn sofort weitervermittelt. Wenige Sekunden später hört er Vanessas weiche Stimme.
»Max, du wolltest dich doch melden.«
Punktlandung auf seinem schlechten Gewissen.
Er atmet tief ein und sagt eine Spur zu lapidar: »Die Zeit rast so dahin. Es ist immer viel zu tun.«
Vanessa lacht auf. »Hab schon gehört, dass du den Fall Golfball leitest. Ich habe die Analysen extra vorgezogen, obwohl hier noch jede Menge Sachen von dieser zerstückelten Leiche liegen.« Sie hält kurz inne und fügt dann hinzu: »Ich finde, dass man alte Freundschaften pflegen muss, oder?«
Als er nicht darauf reagiert, fährt sie im geschäftsmäßigen Ton fort: »Die bisherigen Ergebnisse sind viel versprechend. Du solltest sie dir ansehen.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legt sie auf.
Beckmann ist beruhigt, es scheint keine weiteren Vorhaltungen von Vanessas Seite zu geben. Das ist gut. Im Unterschied zu Martha ist sie offensichtlich nicht nachtragend.
Bevor er in seinen Volvo steigt, für den er ausnahmsweise einen Parkplatz direkt am Wedekindplatz bekommen hat, wählt er die Nummer von Rischmüller. Sein Kollege sitzt schon am Arbeitsplatz und hat gerade den Computer hochgefahren.
»Ich hab dich gestern Abend vermisst, du wolltest doch noch zum Maschsee nachkommen«, empört dieser sich, als er hört, wer am Apparat ist. »An der Löwenbastion war die Hölle los, eine geile Band nach der anderen, und die Schnitten …«, er macht eine viel sagende Pause, als wenn er sich ein Stück Torte auf der Zunge zergehen lässt, »waren allererste Sahne.«
Als Beckmann nicht weiter reagiert, fügt er hinzu: »Aber bei dir läuft ja was auf dem Lande, hab ich läuten hören.«
So, wie dieser mindestens zehn Jahre jüngere Kollege sein Verhältnis zu Martha umreißt, fühlt Beckmann sich seltsam ertappt und wechselt das Thema abrupt.
»Hast du was über Müller herausgefunden?«
»Noch nicht, aber ich bin dran.«
Beckmann will schon das Gespräch beenden, als ihm etwas einfällt.
»Kennst du dich eigentlich mit Runen und Emblemen aus der rechten Szene aus?«
»Nicht so gut, aber das wird sich sofort ändern«, lacht Rischmüller ins Telefon, und Beckmann kann sich vorstellen, wie der schlaksige Mann sich auf seinem Schreibtischstuhl räkelt und über die Tastatur seines Computers huscht, während sie miteinander reden. »Spezielle Zeichen?«
»Ein gerader roter Strich mit einem Zacken oben und unten.«
2
Wörstein hat wieder schlecht geschlafen. Immerzu ist er von einem sich fortsetzenden Traum aufgewacht: Er läuft jemandem hinterher, der plötzlich weg ist und an der nächsten Ecke erneut auftaucht. Seine eigenen Beine sind schwer wie Blei und er kommt nicht von der Stelle, scheint mit dem Erdboden verwachsen zu sein. Der andere dagegen rennt wieselflink an ihm vorbei. Bittet er Passanten um Hilfe, verschwinden sie sofort aus seinem Gesichtsfeld. Der Wettlauf von Hase und Igel. Er stöhnt innerlich auf, wenn er an das Gefühl der um sich greifenden Ohnmacht denkt. Solche Alpträume muss man schnell vertreiben, sonst vergällen sie einem den Tag. Mit entschlossenem Griff zieht Wörstein seine Joggingschuhe aus dem Regal, schlüpft hinein und bindet die Schnürbänder fest zu. Schon im Flur dribbelt er sich warm.
Oberstes Gebot ist es, die Kontrolle zu behalten und alles im Voraus zu bedenken. Wie ein Mantra betet er sich diese Sätze immer wieder vor.
Wörstein läuft über die mit Heidekraut bewachsenen Sandwege am Rande des Großen Moores, vorbei an Wacholderbüschen und jungen Birken. Er zieht die Luft tief in die Lungen und fühlt sich von Schritt zu Schritt besser.
Als er nach einer Stunde zurückkommt, sitzt Matusch vor dem Eingang des Hauses, in
Weitere Kostenlose Bücher