Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
Sie wusste recht gut, was sie tun musste – oder sie hatte zumindest das Gefühl, dass sie es wissen würde, wenn sie sich nur erinnern könnte. Sie versuchte sich zu sagen, dass gerade diese geschäftigen, eilenden Menschenmassen ihr die beste Gelegenheit bieten würden, der Entdeckung zu entgehen. Sie versuchtesich selbst Mut zuzusprechen, so wie ihre Mutter es getan hätte.
Doch der Lärm des Bahnhofs raubte ihr noch die letzte Kraft. Sie wusste, dass sie bald ohnmächtig werden würde, und eine Ohnmacht würde Entdeckung und Verhaftung bedeuten. Die Kräfte, die nötig wären, um das zu tun, was sie tun sollte – einen Koffer kaufen, in eine der Vorstädte fahren, eine Unterkunft finden –, waren genauso unerreichbar für sie, wie es ihr unmöglich gewesen wäre, den Zug, in dem sie eben gefahren war, ganz allein voranzuziehen. Und an Willen und Vernunft mangelte es ihr ebenso wie an Kraft. Sie war ein schwaches kleines Tier, das nur noch von Instinkten geleitet wurde, seit ihr Versuch, sich zu sammeln, wieder verblasste. Victoria Station bedeutete jetzt nur noch eines für sie – Millicent Dunne und Millicent Dunnes Apartment. Es waren die alten Assoziationen, die sie leiteten, sonst nichts. Und ohne zu wissen, wohin sie ging, schob sie sich durch die Menge zum Bahnhofsausgang Wilton Road. Hier war das Haus, und die Eingangstür stand offen. Die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Dies war die Tür. Sie klopfte, und die Tür wurde augenblicklich geöffnet von Millicent, die noch in Jackett und Hut dastand, weil sie eben erst aus dem Büro nach Hause gekommen war.
Millicent hatte damit gerechnet, dass vielleicht ihre Vermieterin klopfte oder irgendeine Nachbarin, die Milch oder ein Ei leihen wollte. Sie hätte im Traum nicht daran gedacht, dass es Marjorie sein könnte. Doch sie trat zur Seite, und Marjorie ging hinein, blinden Auges und mit langsamen kurzen Schritten, und blieb reglos mitten im Zimmer stehen, während Millicent die Tür hinter ihr schloss und sie, einer Eingebung folgend, auch abschloss. Dann kam sie zu Marjorie.
»Nun, Marjorie?«, sagte sie ruhig. »Nun, Schatz?«
Es gab nichts weiter zu sagen. Marjorie rollten Tränen über die Wangen, und sie tropften ihr bis auf den Busen hinab, während sie, den blinden Blick zum Fenster gewandt, einfach nur dastand.
»Du armer Schatz!«, rief Millicent voll tief empfundenem Mitleid und schloss sie in die Arme.
Später saß Marjorie im Sessel. Dies war zweifellos Millicents Wohnschlafzimmer – ihr »Apartment«, wie sie zu Leuten sagen würde, die es nicht kannten. Der Diwan an der Wand mit dem braunen Überwurf war des Nachts das Bett. Am Fenster hingen die Gardinen, die Marjorie aussuchen geholfen hatte und die auf Marjories Nähmaschine gesäumt worden waren. Auf dem Kaminsims stand ein Foto von Anne als Baby. Und Millicent beugte sich jetzt über ihren Gaskocher, der an den Gasofen angeschlossen war, und plauderte wie üblich.
»Es gibt Eier«, erzählte Millicent. »Es gibt immer Eier. Weißt du was, wenn ich meine Beförderung bekomme und ein richtiges Apartment habe, werde ich nie wieder Eier essen. Und ich werde nur noch Speisen kochen, die richtig riechen . Zwiebeln. Und frischen Hering. Wenn man hier auch nur an frischen Hering denkt , ist Mrs Hardy in null Komma nichts oben, klopft an die Tür und erzählt einem, dass sich schon das ganze Haus über den Gestank beschwert. Na, jedenfalls gibt’s heute Eier. Drei insgesamt. Gebraten, gekocht, pochiert oder Rührei?«
Marjorie schüttelte den Kopf. Sie konnte sogar lächeln.
»Ist mir egal«, sagte sie.
»Tja, eine schrecklich schwierige Entscheidung«, fuhr Millicent fort. »Vor allem, wenn du seit sechs Jahren etwa fünfmal die Woche unentschlossen vor den vier Möglichkeitenstehst. Komm, sag schon. Such dir was aus und erspar mir die Mühe.«
»Dann gekocht«, erwiderte Marjorie. Das bedeutete den leichtesten Abwasch danach – es war die Entscheidung, die sie zu Hause immer traf, wenn es ihr überlassen war.
»In Ordnung«, sagte Millicent und füllte den Eiertopf am Wasserhahn.
Millicent konnte immer schon reden, und die jahrelange Erfahrung in ihrer jetzigen Anstellung hatte sie gelehrt, wie man unangenehme Pausen mit heiterem Geplauder füllte. Und sie redete immer weiter, während sie den Tisch deckte, Brot schnitt, Butter hinstellte und in einem Anfall von Extravaganz eine Dose Früchte öffnete. Wenn sie später auf diese Zeit zurückblickte, konnte sie sich selbst
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