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Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)

Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. S. Forester
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dass dann die Gefahr für Marjorie wuchs – das Geld, das viel war für einen allein, wäre viel zu wenig gewesen, hätte man es durch zwei teilen müssen. Solange Marjorie in Sicherheit war, war es ihr egal, was aus ihr selbst wurde. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und wusste, was sie tun würde.
    Sie ging durch die ruhige Seitenstraße, und ging und ging immer weiter, ohne auf ihre wachsende Erschöpfung zu achten, und mit den Tränen kämpfend. Ziemlich erstaunt übersich selbst stellte sie plötzlich fest, dass ihr Schluchzer aus der Kehle aufstiegen. Sie unterdrückte sie – sonst würden die Leute schon bald Notiz von ihr nehmen, und das wäre nicht gut. Noch nicht zumindest. Eine Straßenuhr zeigte ihr an, dass Marjories Zug noch nicht an der Victoria Station angekommen war. Sie ging weiter und weiter. Sie wusste, wo die Polizeiwache war, da sie sie schon am frühen Vormittag bemerkt hatte. Dorthin ging sie zurück, als die Uhren ihr anzeigten, dass Marjorie wieder sicher in London angelangt war. Vor dem Gebäude blieb sie noch einen Augenblick stehen und vergewisserte sich, dass ihre Kleidung ordentlich war und ihr Hut gerade saß. Dann ging sie die Stufen hinauf und ganz gelassen hinein. Ein großer, schwerer Sergeant thronte schreibend an einem Schreibtisch und ließ sich zunächst gar nicht dazu herab, die kleine alte Dame zu bemerken, die geduldig dastand und darauf wartete, dass er ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken geruhte. Schließlich sah er sie von oben herab an, und sie sagte ihm, wer sie war.

21
    Der Waggon, in dem Marjorie in eine Ecke gekauert dasaß, war glücklicherweise leer. Aber sie war dennoch nicht ganz unbeobachtet, denn es war ein Waggon mit Mittelgang, und beständig liefen Leute hin und her auf dem Weg durch den Zug. Jedes Mal, wenn jemand kam, schrumpfte Marjorie in sich zusammen. Sie drehte sich herum, sodass sie aus dem Fenster schaute und die Vorbeigehenden nur ihren Hinterkopf zu sehen bekamen, und sie versuchte auch, mit der Hand an der Wange ihr Gesicht zu verdecken. Die Landschaft wirbelte an ihren Augen vorüber, und das Geräusch der Räder dröhnte ihr gleichmäßig, aber leise in den Ohren. Alles – sogar die Vorsichtsmaßnahmen, die sie ergriff, um unerkannt zu bleiben – erschien ihr unwirklich, nur die Angst in ihrem Herzen nicht. Die war wie ein großer Schmerz von solch überwältigender Intensität, dass alles andere merkwürdig bedeutungslos wurde daneben, wie in einem Albtraum. Angst nagte an ihrem Herzen und schoss ihr wie weiß glühende Flammen durch die Adern. Die unsinnige Freude, die der Mensch in der Jagd findet, hat ihr natürliches Pendant in der besinnungslosen Qual des Gejagten. Es war Marjorie nicht möglich, stoisch die nächste Drehung des Rades abzuwarten oder irgendeine düstere Befriedigung in der mathematischen Berechnung der Chancen für oder gegen sich zu finden. Sie konnte nur leiden, ohnmächtig. Die Stunde, die der Zug für die Fahrt von Brightonzur Victoria Station brauchte, fraß das wenige an Kraft, das sie besaß, gänzlich auf.
    Und so wie der verwundete Soldat auf dem Schlachtfeld oder der an Krebs sterbende Mensch allen Schmerz zu erleiden scheint, der zugefügt werden kann, und dennoch von Zeit zu Zeit unter neuen und noch grausameren Qualen aufschreit, so erging es auch Marjorie. Der beständig dahinfließende Strom ihres Schmerzes beschleunigte sich von Zeit zu Zeit noch, wenn sie an Derrick und Anne dachte, die jetzt vermutlich im Armenhaus waren, und an ihre Mutter – bitterste Qual war das. Und einmal, das beständige Dröhnen der Räder im Ohr, dachte sie auch an George Ely. Ihr war, als könnte sie das grobe Geflecht des Strangs, der seinen Hals erwartete, in ihren Handflächen geradezu spüren. Sie biss sich auf die Unterlippe und krümmte sich auf ihrem Platz unter der Pein. Als der Zug in der Victoria Station einlief, konnte sie kaum aufstehen, konnte kaum zur Waggontür wanken. Beim Anblick des Bahnsteigs, der überfüllt war mit den Massen des Samstagmittags, wich sie einen Augenblick ängstlich zurück. Diese Menschenmassen, sagte ihr besinnungsloser Instinkt ihr, warteten vielleicht auf sie.
    Victoria Station war voller Menschen, so, wie es an einem Samstag im Sommer kurz nach Mittag zu erwarten war, eine einzige geschäftige, lärmende Woge. Marjorie stand eine Weile auf dem Bahnsteig da und wartete auf die Kraft, die sie zur Fahrkartensperre führen würde; und schließlich versuchte sie sich zu sammeln.

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