Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
antun, Mill? Werden sie gemein sein zu ihr?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Millicent beruhigend.
Der Ton, in dem sie sprach, ihr Verhalten, ihre Worte, all das erinnerte Marjorie daran, wie ihre Mutter mit ihr gesprochen hatte während dieses zweitägigen Albtraums, und aufgrund irgendeines seltsamen Zugs in ihrem Charakter half ihr das, ihr Gleichgewicht wiederzugewinnen. Mutter hatte sie geleitet und beschützt. Jetzt erkannte sie auf einmal mit großer Klarheit, wie vollkommen abhängig sie von ihrer Mutter gewesen war und dass sie sich in dem Moment, als sie auf sich allein gestellt gewesen war, sogleich zu Millicent geflüchtet und neue Unterstützung gesucht hatte. Das würde nicht noch einmal geschehen. Millicent sah überrascht, wie Marjories Gesichtsausdruck sich verhärtete. Das Kindliche, das Törichte, schwand. In einer plötzlichen Wandlung wurde sie binnen weniger Minuten wieder die alte Marjorie, die Millicent immer gekannt hatte. Zum ersten Mal seit jenem Donnerstag konnte Marjorie wieder klar denken und hatte sich selbst vollkommen im Griff.
»Ich sollte nicht hier sein«, sagte Marjorie. »Das ist nicht fair dir gegenüber. Du hättest mich nicht hereinlassen sollen.«
Millicent zuckte die Achseln.
»Ich an deiner Stelle würde so lange wie möglich hierbleiben«, sagte sie. »Und das Beste draus machen.«
»Du bist so gut zu mir, Mill«, erwiderte Marjorie. »Du hättest ihnen sagen können, wo ich bin.«
»Das ist nicht meine Aufgabe. Du bist meine Freundin.«
Millicent blickte Marjorie unwillkürlich fragend an, als siejetzt sprach. Sie wusste auch nicht mehr über das, was geschehen war, als alle anderen Leute; die kurzen Artikel in den Zeitungen hatten nur wenig preisgegeben. Von George Ely hatte sie zuvor noch nicht einmal gehört – so viel war geschehen seit jenem tragischen Abend vor ein paar Wochen, als sie Marjorie zuletzt gesehen hatte. Die Zeitungsartikel hatten vor ihrem geistigen Auge das Bild zweier wütender Frauen und eines jungen Liebhabers heraufbeschworen, ein blutiges Drama, in dem eine Axt eine Rolle spielte. Wie es dazu gekommen war, konnte sie sich nicht vorstellen; aber sie hatte seit Jahren vermutet, dass Ted brutal mit Marjorie umging. Doch egal, ob Ted nun seine gerechte Strafe ereilt hatte oder nicht, für Millicent war es selbstverständlich, Marjorie ohne zu zögern all die Hilfe anzubieten, die in ihrer Macht stand. In ihrem fragenden Blick lag nicht mehr als entschuldbare Neugier. Marjorie fiel er trotzdem auf.
»Du glaubst, ich habe es getan!«, sagte sie empört. Ihre Stimme hatte sich wieder einen halben Ton gehoben.
»Nein, das glaube ich nicht. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen«, erwiderte Millicent, blickte Marjorie ins müde Gesicht und fügte dann hinzu: »Erzähl mir, wie es geschehen ist, wenn du willst.«
Es war eine Erleichterung für Marjorie zu reden. Sie sprudelte die ganze Geschichte hervor, mit all dem Kummer und Schrecken, der dazugehörte. Millicent zwang sich, nicht zusammenzuzucken, während sie zuhörte. Mal schneller, mal langsamer erzählte Marjorie ihr alles. Die Enthüllungen über Dots Tod stieß sie in wenigen atemlosen Sätzen hervor. Als sie von George Ely erzählte, stockte und zögerte sie; aber das geschah nicht so sehr aus Scham, sondern weil es ihr jetzt so vorkam, als hätte es nie stattgefunden. Es erschien ihr unmöglich, dass sie je die Arme um seinen Hals gelegt oderseine Küsse gespürt hatte. Ihre Erinnerung sagte ihr, dass sie es getan hatte, doch sie misstraute ihrer Erinnerung. Es war, als versuchte sie sich an die Einzelheiten eines Romans zu erinnern, den sie vor langer Zeit gelesen hatte, und jetzt beim erneuten Nachdenken darüber klangen sie nicht mehr so wahr, wie sie zuerst gedacht hatte. Sie brachte diesen Teil der Geschichte hinter sich ohne einen Gedanken daran, sich dafür zu entschuldigen.
Die Einzelheiten des letzten Abends in Teds Leben waren ihr sehr viel lebhafter in Erinnerung. Sie erzählte sie alle, eine nach der anderen, und die schnörkellosen Sätze ließen vor Millicents geistigem Auge das ganze Bild in all seiner lebensprallen Drastik erstehen. Und dann machte sie weiter mit der Flucht und den Ereignissen der letzten beiden Tage. Hier begannen ihr die Worte wieder zu versiegen. Nur durch Nachfragen und aufgrund des sich in Marjories gepeinigtem Gesicht spiegelnden Schreckens konnte Millicent schließlich erahnen, was sie in den vergangenen achtundvierzig Stunden
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