Tödliche Option
und machte eine Pause, um sich die Nase mit einem Kleenex
abzutupfen. Sie fühlte sich nicht richtig an. Wenn sie nun gebrochen war? Sie
betrachtete das Taschentuch. Es war blutig. Mein Gott. Er hatte ihr die Nase
gebrochen. Tränen brannten in den Augen. Ihre Finger tasteten die dicke,
anschwellende Wange ab. Lauf weiter. Nicht stehenbleiben. Hinaus. Weg von
hier. Hol Hilfe.
Neunzehn... achtzehn... siebzehn... sechzehn...
Er hätte sie umgebracht. Noch bist du nicht
in Sicherheit. Immer weiter. Lauf. Lauf.
Fünfzehn... vierzehn... dreizehn...
Ohne Warren wäre sie mit Sicherheit vergewaltigt
worden. Geschlagen. Tot.
Konzentriere dich auf die Treppe.
Zwölf... elf... zehn...
Fast geschafft. Geh. Geh. Geh. Hatte sie
etwas getan, um ihn zu verführen? Nein. Nein. Er war verrückt. Wenn er aber
geglaubt hatte, sie würde mit ihm in die Wohnung kommen, weil sie es wollte?
Nein. Nein. Sie hatte ihn nicht verführt. Was dachte sie bloß?
Neun... acht... sieben... sechs...
Sie wurde langsamer, keuchte, lauschte, indem
sie die Treppe hinaufsah. Niemand folgte ihr. Wie war das möglich? Mein Gott,
wenn er den Aufzug nach unten genommen hatte? Wenn er unten an der Treppe auf
sie wartete? Sie zitterte so heftig, daß sie wie betrunken taumelte, das
Geländer umklammerte, sich vorwärtstrieb.
Fünf... vier...
Sie verlor den Halt, fiel halb und rutschte halb
auf dem Hintern zum Absatz im dritten Stock, wo sie stöhnend liegenblieb und
versuchte, Luft zu bekommen. Wenn Chris der Mörder war, würde er sie jetzt
finden und töten müssen, weil sie Bescheid wußte. Sie wußte Bescheid. Sie
raffte sich auf und wankte die restlichen zwei Treppen hinunter bis zu einer
roten Tür mit der Aufschrift Ausgang — nur im Brandfall benutzen.
Sie drückte gegen die Tür, daß es ihr weh tat
vor Anstrengung. Das Schloß gab nicht nach. Von oben kam ein Geräusch. Die
Treppe führte weiter nach unten, und sie folgte ihr bis zu Ebene I. Nach unten
spähend sah sie, wo Ebene II sein mußte, und hörte das rumpelnde Seufzen der
Innereien des Gebäudes wie auf einem riesigen Passagierschiff. Der Dampfkessel
war dort unten und wer weiß was noch. Sie kroch zurück auf Straßenniveau. Sie
würde es ein letzes Mal am Notausgang probieren. Was blieb ihr anderes übrig?
Hinein auf den Flur gehen und um Hilfe betteln? Wer in New York würde einer
Fremden die Tür öffnen? Aber vielleicht konnte sie jemanden dazu bringen, die
Polizei zu rufen.
Sie raffte ihre ganze Kraft zusammen, stützte
sich auf den Riegel und stieß dagegen. Die Tür flog auf, und sie verlor den
Halt und taumelte auf die Straße, landete auf dem Knie — dem verletzten.
Schmerzwellen jagten durch ihr Bein, und sie brach auf dem Gehweg zusammen. Gib
jetzt nicht auf. Steh auf. Steh auf. Wo war sie? Sie rollte zur Seite und
setzte sich auf. Zwielicht. Ein bedeckter Himmel. Die nicht zu atmende Luft.
Sie befand sich in der Nähe eines unbebauten Grundstücks an der stillen Seite
der 29. Street, denn sie konnte die Kleine Kirche um die Ecke gegenüber in der
Mitte des Straßenabschnitts sehen. Alle hielten sich in den kühlen Wohnungen
auf, außer einer Stadtstreicherin auf der anderen Straßenseite, die im
Rinnstein saß und an ihren überladenen Einkaufswagen gelehnt döste.
Wetzon zog sich an der offenen Metalltür hoch
und schlug die Tür zu. Sie brauchte einen Arzt. Ihre Handtasche hatte sie noch.
Sie würde ein Taxi rufen. Sie lehnte sich gegen die glatte Marmorseite des
Gebäudes. Bis zur Straße würde sie es nie schaffen. Als sie zum erstenmal an
sich hinabsah, merkte sie, daß ihre Bluse und der BH zerfetzt an ihr hingen.
Sie knöpfte die Jacke zu, strich sich mit zitternden Händen das Haar aus dem
Gesicht. Es hing um ihre Schultern, ihren Rücken. Es war so heiß. Es war so
kalt. Sie konnte kaum das Gleichgewicht halten. Ein Auto bog von der Madison
links ab und kam langsam im westlicher Richtung durch die 29. Street, fuhr vor
einem Feuerhydranten an die Seite und hielt. Eigentlich durfte man da nicht parken.
Es würde einen Strafzettel bekommen. Eine Hupe tönte.
Sie konnte es nicht sehen. War es ein Taxi? Mit
ihrer ganzen Willenskraft löste sie sich von der Seite des Gebäudes, aber ihre
Füße wollten sich nicht bewegen.
»Ms. Wetzon?« Jemand rief sie von dem Auto her.
»Leslie?«
Eine Gestalt stieg aus dem Auto aus und kam auf
sie zu. Sie duckte sich. Wer war das? Sie bedeckte ihr Gesicht mit den
zitternden Händen. Chris hatte sie gefunden. Er kam sie
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