Tödliche SMS (German Edition)
Häuser in dieser Gegend waren Mietshäuser der gehobenen Klasse. Wer sich hier eine Wohnung leisten konnte, galt als gutbürgerlich. Übertroffen wurde das nur noch von jenen, die sich in den Villengegenden einquartiert hatten.
Sie war nicht mehr in Remo Bauers Büro zurückgegangen, sondern hatte das Polizeigebäude auf direktem Weg verlassen. Was hätte er ihr sagen können? Für Menschen wie sie, Otto Normalverbraucher, war in Österreich kein Personenschutz vorgesehen. So etwas Ähnliches hatte sie schon einmal gehört. Bei ihr würde die Polizei erst anrücken, wenn sie tot war. Die Erinnerung an das tragische Bild ließ sie zittern. Silke, auf dem Rücken liegend, festgebunden, nackt auf einem Ateliertisch.
Langsam funktionierte ihr Gehirn wieder, schemenhaft tauchten immer wieder Einzelheiten in ihrer Erinnerung auf, die sie im Schockzustand verdrängt hatte. Auch an Silkes Nacktheit konnte sie sich inzwischen erinnern. Ihre Alpträume zwangen sie dazu.
Nur noch wenige Schritte trennten Andrea von dem Haus, in dem Silkes Eltern wohnten. Die Wohnung lag im ersten Stock. Schon in einigen Sekunden würde sie auf den Klingelknopf drücken. Sie zögerte. Die Furcht vor den Tränen der Königserfüllte sie. Sie hatte Angst vor dem Schmerz, der ihr ungeschminkt ins Gesicht schlagen würde.
Minutenlang stand sie vor der grauen Eingangstür, die Hand auf der Glocke ruhend. Schließlich fand ihr rechter Zeigefinger die Kraft zu drücken.
Kurz darauf waren Schritte zu hören. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Andrea erkannte das Gesicht Maria Königs. Es war um Jahre gealtert, ihre Wangen waren eingefallen, ihre rot geränderten Augen erzählten von den Tränen, die sie kurz zuvor geweint hatte.
Der graue Tweedrock und die hellblaue Baumwollbluse ließen sie blasser aussehen, als sie ohnehin schon war.
„Hallo“, sagte Andrea. Mehr schaffte sie nicht, denn Silkes Mutter hatte die Tür weit aufgerissen, war nach vorne getreten und drückte sie fest an sich. Andrea musste sich vornüberbeugen, denn Maria König war etwa fünfzehn Zentimeter kleiner als sie.
„Warum?“, fragte sie mit heiserer Stimme, erwartete jedoch keine Antwort. Sekundenlang erstarrten sie in ihrer Umarmung, dann gab Maria König Andrea ruckartig frei und zog sie schweigend hinter sich her ins Wohnzimmer.
Das Zimmer erstreckte sich über die linke vordere Ecke des Hauses. Durch zwei große Fenster kam genügend Tageslicht herein, so dass keine künstliche Lichtquelle notwendig war, um den Raum hell wirken zu lassen. Auf dem Couchtisch lag die Montagszeitung. Auf der Titelseite schrie ihr die Schlagzeile entgegen: MORD IM FILMMILIEU. Darunter ein kleines Foto von Silke. Andrea wandte ihren Blick ab, sie hatte keine Lust auf diese Art von Artikel, reißerisch geschrieben und mit teilweise erfundenen Details, um der Geschichte den letzten Biss zu geben. Bisher hatte sie es vermieden, eine Tageszeitung zur Hand zu nehmen, sie wollte das auch die nächsten Tage so beibehalten.
Walter König saß in einem hellbraunen Ohrensessel und starrte mit trübem Blick auf einen Ahornbaum vor dem Fenster. Andrea sah den alten Mann an. Er trug einen dunkelgrauen Hausanzug und weinrote Hauspantoffel. Er wirkte verloren, ähnlich wie der alte Baum, der seine Blätter aufgrund des bevorstehenden Winters schon abgeworfen hatte. An seinen fahlen Wangen, seinen herabhängenden Schultern, seinen dünn und knöchern gewordenen Gliedmaßen erkannte sie, dass die Trauer ihn gebrochen hatte. Würde die Zeit die tiefe Wunde dieser alten Menschen heilen können, die beiden jemals aufhören, um ihre einzige Tochter zu trauern? Oder würde sie der Schmerz töten? Instinktiv wusste Andrea, dass Letzteres passieren würde.
„Schau, wer uns besucht, Walter!“, sagte Silkes Mutter.
Walter König drehte leicht den Kopf und starrte die beiden eine Weile aus traurigen Augen an, dann erwachte seine Stimme krächzend zum Leben. „Es ist gut, dass du gekommen bist.“
Maria König deutete ihr, auf dem Sofa Platz zu nehmen. „Möchtest du Tee?“ Andrea nickte. Sie hatte zwar keine Lust auf Tee, wollte sich aber einige Minuten verschaffen, um die Stimmung auffangen zu können. Walter König widmete sich wieder schweigend dem Baum und es schien, dass er ihm im Moment näher war als sonst jemandem in diesem Raum. Er gab erst wieder ein Lebenszeichen von sich, als seine Frau mit dem Tee kam. Die alte Dame setzte sich Andrea gegenüber auf einen freien Sessel.
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