Tödliche Täuschung
sie zu wissen.
»Wer hat das gesagt?«
»Es ist lange her… ungefähr zwanzig Jahre«, erwiderte er.
»Na schön, dann hab’ ich’s also damals getan«, gestand sie widerstrebend. »Aber es waren bloß ihre Gesichter, die total verzerrt waren. Man konnt’s ihnen auf den ersten Blick ansehen, sicher. Da hätte man niemandem was vormachen können, nicht mal ‘ne Sekunde lang.«
»Warum haben Sie sie aufgenommen?«, hakte er nach , obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Weil man mich dafür bezahlt hat!«, fuhr sie ihn an. »Was glauben Sie denn? Aber es war alles legal! Und ich habe niemanden betrogen. Das kann mir keiner unterstellen! Ich hab’ sie als genau das verkauft, was sie waren - hässlich und dumm - beides! Daran habe ich keinen Zweifel gelassen.«
»Das hat auch niemand behauptet«, erwiderte er kalt. »Soweit mir bekannt ist, jedenfalls. Ich würde trotzdem gern wissen, was aus den Jackson-Mädchen geworden ist. Ich bin zufällig mit ihrer einzigen noch lebenden Verwandten bekannt, die sich vielleicht… erkenntlich zeigen würde… wenn die beiden gefunden würden.« Er machte die entsprechende Geste mit Daumen und Ze igefinger, um zu unterstreichen, was er meinte.
»Ah…« Sie dachte offensichtlich darüber nach, was bei der ganzen Angelegenheit für sie herausspringen würde. Sie warf einen Blick auf seine blank geputzten Stiefel, seine schöne Jacke und zuletzt auf sein Gesicht und kam zu dem Schluss, er müsse ein Mann mit Blick fürs Geld sein, während er es mit der Moral nicht so genau nahm - ganz wie sie selbst. »Als sie alt genug zum Arbeiten waren, hab’ ich sie in den Pub gegeben, in die Küche dort.«
»Ins Cooper’s Arms?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ja. Aber die haben sie dort nicht behalten. Die waren ihnen zu hässlich. Keine Ahnung, was sie mit ihnen angefangen haben, aber Sie könnten dort ja mal fragen.«
»Wie lange ist das jetzt her? Zehn Jahre?«
»Zehn Jahre?«, fragte sie verächtlich. »Glauben sie, ich schwimme im Geld? Fünfzehn Jahre ist es jetzt her, und selbst das bedeutete, dass ich ihnen Zeit gelassen hab’. Sie waren sechs und acht, alt genug, um sich allein durchzuschlagen. Ich hätt’ sie früher weggeschickt, wenn sie nicht so erbärmlich gewesen wären! Ich dachte, die Dummheit würde sich mit den Jahren vielleicht auswachsen und sie hätten bessere Chancen.« Sie sonnte sich in ihrer eigenen Barmherzigkeit.
»Vielen Dank.« Er stand auf und strich seinen Mantel glatt.
Sie machte ein langes Gesicht. »Was ist denn jetzt mit den Mädchen? Sie werden keine besseren finden, nicht zu einem besseren Preis!«
»Ich habe meine Meinung geändert«, sagte er mit einem frostigen Lächeln. »Ich habe mir überlegt, dass ich doch lieber weniger anziehende Mädchen haben möchte. Danke, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben.«
Sie beschimpfte ihn mit einer Abfolge von Ausdrücken, die er seit seinem letzten Besuch in den Elendsvierteln von Devil’s Acre nicht mehr gehört hatte. Er stolzierte großtuerisch durch die Tür, bis er die Mädchen in Reih und Glied im Flur stehen sah, sauber gewaschen, die Haare zurückgebunden, die mageren Gesichter voller Hoffnung. In dem Augenblick wurde ihm beinahe schlecht.
»Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »Ihr seid alle vollkommen in Ordnung. Ich habe nur einfach meine Meinung geändert.« Mit diesen Worten eilte er davon, um möglichst jeden Gedanken an sie aus seinem Kopf zu vertreiben.
Der Vormittag war schon so weit fortgeschritten, dass er ohne weiteres zum Cooper’s Arms hinübergehen, ein Mittagessen einnehmen und gleichzeitig ganz beiläufig Erkundigungen über die Jackson-Mädchen einziehen konnte. War es möglich, dass das Ganze doch einfacher als gedacht war? Dass sie noch immer in der unmittelbaren Nachbarschaft lebten? Es war töricht, sich Hoffnungen zu machen, und er wusste nicht einmal, ob er sich etwas Derartiges wünschen sollte. Durchaus möglich, dass es Martha Jackson nur noch mehr Kummer bereiten würde. Aber es war nicht seine Aufgabe, dies zu entscheiden. Oder etwa doch? Er verfügte über Kenntnisse, die sie nicht besaß. Indem er sie ihr erzählte oder nicht erzählte, lag bereits die Entscheidung.
Er ging in dem strahlenden Sonnenlicht mit energischem Schritt die Putney High Street entlang. Es wimmelte dort von Menschen, die größtenteils ihren Geschäften nachgingen, um Preise feilschten und lauthals ihre Waren anpriesen. Es gab auch einige Bettler und Leute, die herumstanden
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