Toedliche Traeume
Gesicht. Tränen liefen ihm über die Wangen, doch sie versuchte nicht, sie fortzuwischen. Sie hatte mit der Zeit gelernt, seine Tränen zu übersehen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Es war nur eine Nebensächlichkeit, aber es half, seinen Stolz nicht zu verletzen, wenn er so abhängig von ihr war. »Ich sage dir doch immer wieder, dass das nichts mit Schwäche zu tun hat. Es ist eine Krankheit, die geheilt werden muss. Ich weiß, wie schrecklich du leidest, und ich bin sehr stolz auf dich.« Sie holte tief Luft. »Es gibt nur eins, was mich noch stolzer auf dich machen würde. Wenn du mir davon erzählen würdest …«
Er wandte sich ab. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Das war gelogen, und sie wussten es beide. Es stimmte zwar, dass Menschen, die unter Pavor nocturnus, auch Nachtschreck genannt, litten, sich häufig nicht an den Inhalt ihrer Alpträume erinnerten, aber Michaels Träume mussten irgendwie mit jenem Tag auf dem Pier in Zusammenhang stehen. Und seine Reaktion auf ihre Frage bewies ihr, dass er sich an seine Träume erinnerte. »Es würde dir helfen, Michael.«
Er schüttelte den Kopf.
»Also gut, vielleicht das nächste Mal.« Sie stand auf. »Wie wär’s mit einer Tasse heißem Kakao?«
»Es ist halb fünf. Du musst doch heute arbeiten, oder?«
»Ich habe schon genug geschlafen.« Sie ging zur Tür. »Geh dir das Gesicht waschen, in der Zwischenzeit mache ich uns einen Kakao.« Er war blass, diesmal war es offenbar besonders schlimm gewesen. Gott, sie hoffte, dass er sich nicht übergeben musste. »In zehn Minuten in der Küche, okay?«
»Okay.«
Als er sich fünf Minuten später an den Tisch setzte, hatte er schon wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. »Dad hat mich gestern Nachmittag angerufen.«
»Wie schön.« Sie füllte zwei Henkeltassen mit Kakao und streute kleine Marshmellows obendrauf. »Wie geht es ihm denn?«
»Ich glaub, ziemlich gut.« Er trank einen Schluck. »Er bringt mich am Samstagabend nach Hause, weil er mit Jean übers Wochenende wegfährt. Ich hab ihm gesagt, das ist in Ordnung. Ich bin sowieso lieber bei dir.«
»Das freut mich. Du fehlst mir auch, wenn du fort bist.« Sie setzte sich an den Tisch und nahm ihre Tasse in beide Hände. »Aber warum bist du lieber hier? Du magst Jean doch, oder?«
»Klar. Sie ist nett. Aber ich glaube, die beiden sind lieber unter sich. Das ist doch meistens so bei Leuten, die frisch verheiratet sind, oder?«
»Manchmal. Aber sie sind schon seit fast einem halben Jahr verheiratet, und ich bin mir sicher, dass in ihrem Leben Platz für dich ist.«
»Kann sein.« Er trank noch einen Schluck und schaute in seine Tasse. »Ist es meine Schuld, Mom?«
»Was soll deine Schuld sein?«
»Dass ihr euch getrennt habt, du und Dad.«
Auf diese Frage hatte sie schon lange gewartet, und sie war froh, dass sie endlich kam. »Natürlich nicht. Wir waren einfach nicht mehr dieselben Menschen wie zu Anfang unserer Ehe. Wir haben noch auf dem College geheiratet, da waren wir beide noch sehr jung. Und mit der Zeit haben wir uns eben verändert. Das geht vielen Paaren so.«
»Aber ich habt euch oft meinetwegen gestritten. Ich hab euch gehört.«
»Ja, das stimmt. Aber wir haben uns über alles Mögliche gestritten. Und dass wir deinetwegen Auseinandersetzungen hatten, bedeutet nicht, dass wir uns nicht sowieso getrennt hätten.«
»Ganz ehrlich?«
Sie nahm seine Hand. »Ganz ehrlich.«
»Und es macht dir ganz bestimmt nichts aus, dass ich Jean mag?«
»Im Gegenteil, es freut mich. Sie macht deinen Vater sehr glücklich. Das ist wichtig.« Sie nahm eine Serviette und wischte ihm die geschmolzenen Marshmallow-Reste vom Mund. »Und sie ist sehr nett zu dir. Das ist sogar noch wichtiger.«
Er schwieg einen Moment lang. »Dad sagt, Jean ist ein bisschen ängstlich wegen meiner Alpträume. Ich glaub, deswegen wollen sie nicht, dass ich über Nacht bei ihnen bleibe.«
Dieser Mistkerl. Er hatte Jean den Schwarzen Peter zugeschoben, um selbst in einem guten Licht dazustehen. Sophie rang sich ein Lächeln ab. »Sie wird sich schon dran gewöhnen. Aber vielleicht braucht sie das ja auch gar nicht. Du hast ja selbst gesagt, dass die Träume nicht mehr jede Nacht kommen. Es wird immer besser.«
Er nickte. »Dad hat mich nach Jock gefragt.«
Sie trank einen Schluck Kakao. »Wirklich? Du hast ihm von Jock erzählt?«
»Klar. Als ich letztes Mal mit Dad im Kino war.«
»Was wollte er denn wissen?«
Michael grinste. »Er wollte wissen, was er
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