Toedliche Worte
Seite war die Erde aufgewühlt, wahrscheinlich von einem Fuchs oder Dachs. Auf den ersten Blick sah es aus, als habe jemand eine Hand voll kurze, weißlich graue Stöckchen auf den Boden geworfen. Aber Carol war klar, dass das nicht stimmte, sie wusste, wie das Häufchen Knochen einer menschlichen Hand aussah.
Mit gesenktem Kopf stand sie auf, der Regen streifte ihr Gesicht. Sie hatten also tatsächlich Tim Golding gefunden. Oder Guy Lefevre.
Oder beide.
Es war Mitternacht. Carol rieb sich die Augen, die vom stundenlangen Starren auf die Monitore mit den Bildern der Überwachungskameras ermüdet waren, und seufzte. Sie hatten alles getan, was Tony vorgeschlagen hatte. Aber noch immer waren sie nicht weiter als am Anfang, seit Brandon zuerst darauf bestanden hatte, es mit einer verdeckten Aktion zu versuchen. Carol fragte sich, wie lange er diesen Kostenaufwand und die Anzahl von Mitarbeitern für eine solche arbeitsaufwendige Operation noch bewilligen werde. Nach ihrer Entdeckung im Tal hatten sie jetzt zwei große Ermittlungen in Mordfällen zu bewältigen. Wenn die Presse davon Wind bekam, wie viele Beteiligte für die Ermittlungen an den Prostituiertenmorden eingesetzt wurden, würde es einen Aufschrei und hysterische Forderungen geben, doch lieber mehr Beamte den Kindermorden zuzuteilen. Und Äußerungen, es sei wichtiger, Kinder zu retten als Nutten, würden folgen. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch einfach logisch, den Morden in Temple Fields mehr Aufmerksamkeit zu widmen, weil der Mörder offenbar aktiv war, während der Pädophile seit einiger Zeit untätig zu sein schien. Aber die Logik war immer das erste Opfer, wenn die Presse eine Kampagne betrieb. Sie brauchten ein schnelles Ergebnis, sowohl für die Stimmung als auch damit die Öffentlichkeit den Eindruck bekam, sie konzentrierten alle Mittel auf die Entdeckung von Tim Goldings Mörder. Wenn sie das nicht schafften, würde Carol in den Augen ihrer Kollegen und untergebenen Mitarbeiter das Stigma des Versagens anhängen. Und einen solchen Start konnte eine so genannte Eliteeinheit nicht brauchen, obwohl Carol den Verdacht hatte, dass es genug Leute gab, die sich über ihren Mangel an Erfolg freuen würden.
Sie drückte auf den Knopf an ihrem Funkgerät und sagte: »Alle Einheiten abbrechen. Tango Charlie zwei drei, holt DC McIntyre ab. Ausführliche Besprechung morgen um vier.« Ein Mann kam hinter dem Van aus dem Café, stieg ein und fuhr sie zur Wache zurück. Niemand sagte etwas. Sie waren alle müde und entmutigt. Als sie bei der Polizeistation ankamen, stiegen alle aus, nur Carol und Merrick saßen noch zusammengesunken auf ihren Sitzen.
Merrick sah zu ihr hinüber. »Wir kommen so nicht weiter, oder?«
Carol zuckte die Schultern. »Wenigstens regnet es nicht mehr. Was können wir sonst versuchen?«
»Wir sollten uns darauf konzentrieren, Tims Mörder zu finden. Wir wissen beide, dass er wieder zuschlagen wird, wenn wir ihn nicht finden. Und ich will nicht, dass das Blut eines weiteren Kindes an meinen Händen klebt.«
»Der Mann, der Sandie Foster und Jackie Mayall umgebracht hat, wird auch wieder töten, Don. Und bei ihm ist der Abstand zwischen den Taten viel kürzer. Die Frauen auf der Straße verdienen es genauso, von uns geschützt zu werden wie die Kinder. Wir haben kein Recht, eine Hierarchie der Opfer aufzustellen, nach der ihnen mehr oder weniger Beistand zusteht. Das überlassen wir der Presse. Wir behandeln sie alle gleich und setzen unsere Mittel da ein, wo wir uns am ehesten Ergebnisse versprechen können.«
An seinem Gesichtsausdruck konnte Carol ablesen, dass Merrick sich ihrer Beurteilung nicht anschloss. »Wir können nicht ewig so weitermachen«, sagte er.
»Und wenn Tony recht hat, wird das auch nicht nötig sein. Wenn unser Mann Paula als festen Bestandteil der Straße akzeptiert, wird er anbeißen.« Carol klang zuversichtlicher, als ihr tatsächlich zumute war.
Merrick presste die Lippen aufeinander. »Und bis dahin überlassen wir Paula dem Risiko?«
Carol nahm ihre Jacke und stand auf. »Es liegt in ihrem Ermessen. Wenn sie aussteigen will, braucht sie es nur zu sagen.«
»Aber das wird sie nicht tun, oder?«, forderte Merrick sie heraus. »Sie ist ehrgeizig, sie will ihre Sache gut machen. Sie will, dass Sie viel von ihr halten. Sie sieht einen Rückzug als Feigheit an.«
»Sie scheinen ja Paulas Gedanken ganz genau zu kennen«, sagte Carol. »Hat sie Ihnen gesagt, dass sie gern aussteigen würde?«
Merrick
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