Toedliche Wut
einer fensterlosen grauen Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR MITARBEITER. Darüber hängt ein Schild in altenglischer Schrift: MORTUI VIVIS PRAECIPIANT. Die Worte sehe ich nicht zum ersten Mal. Ich kann kein Latein, doch die Übersetzung kenne ich auswendig: »Mögen die Toten die Lebenden lehren.«
Der Flur führt in einen kleinen, spärlich möblierten und in einem angenehmen Beige gestrichenen Raum. Auf einem Beistelltisch befinden sich eine kleine Lampe und eine Box mit Papiertaschentüchern, darüber hängt ein billiger, gerahmter Druck mit einem Motiv aus dem amerikanischen Südwesten. Vor einer der Wände hängt eine zugezogene bodenlange Gardine, in der Nische daneben befindet sich ein runder Lautsprecher mit einem roten Knopf. Ich weiß, dass hinter der Gardine das Sichtfenster ist.
»Ich sage Bescheid, dass Sie hier sind«, lässt uns die Frau wissen.
Bischof Hertzler und Levi King stehen neben dem Beistelltisch, wirken hier fehl am Platz und vermeiden jeden Blickkontakt mit Tomasetti und mir. Keiner der beiden Männer scheint die Gardine zu registrieren, als würde das, was dahinter ist, dadurch verschwinden.
Ich verspüre den starken Drang, in dem kleinen Raum umherzulaufen, verharre aber auf meinem Platz und warte hilflos.
»Zweifle niemals im Dunkeln daran, was Gott dir im Licht gezeigt hat«, sagt der Bischof. »Er wird für Seine Kinder sorgen.«
Keiner antwortet, keiner weiß, was er sagen soll. Doch kann es sein, dass Gott sich manchmal zurücklehnt und die Menschen ihrem Schicksal überlässt? Und dass manche Kinder Gottes viel zu jung sterben?
Levi steckt die Hände in die Taschen und sieht zu Boden. Tomasetti steht nahe der Gardine und sieht aus, als würde er sie gleich selbst zur Seite ziehen, wenn sie nicht bald aufgeht.
»Mr Tomasetti? Sind Sie bereit?«, ertönt knisternd eine Stimme aus dem Lautsprecher an der Wand.
Tomasetti blickt Levi an. Der amische Mann nickt. Tomasetti drückt den roten Knopf am Lautsprecher. »Wir können anfangen.«
Einen Moment später summt ein Motor, und die Gardine geht auf. Levi King beugt sich mit suchendem Blick vor. Ich stehe neben ihm und sehe kurz Tomasetti an, der genauso düster und angespannt wirkt, wie ich mich fühle.
Der kleine, rechteckige Raum hinter dem Fenster ist komplett weiß gefliest. Auf die stählerne Rollbahre mit dem hellblauen Tuch, unter dem schwach die Umrisse eines Körpers zu erkennen sind, fällt kaltes Licht. Ein junger Mann in grüner Krankenhauskleidung steht uns zugewandt am Kopfende der Bahre. Er nimmt das Tuch weg, und ich sehe braunes Haar, das aus dem bleichen, schlaffen Gesicht gekämmt wurde, einen halboffenen Mund mit blauen Lippen, schmale Schultern mit blauweißer Haut.
Levi King stößt einen Laut aus, schnappt nach Luft. Ich sehe, dass sein Mund zittert. Seine Schultern fangen an zu beben. Bischof Hertzler streckt die Hand aus und drückt seinen Arm, doch Levi scheint es nicht zu merken. Für ihn gibt es jetzt keinen Trost.
In der amischen Kultur ist die Trauer eine private Angelegenheit, doch das ist Levi King verwehrt. Der Laut, der seinem Mund entweicht, ist so verstörend, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Sein Schmerzensschrei dringt wie ein Messer in mich ein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tomasetti sich abwendet. Der Bischof legt den Arm um die Schulter des Mannes und sagt: »Sie ist bei Gott.« Doch seine Worte klingen wenig überzeugend.
Tomasetti steht etwa einen Meter vom Fenster entfernt und starrt durchs Glas auf das tote Mädchen. Sein Gesichtsausdruck ist düster und unergründlich. »Ist das Ihre Tochter?«, fragt er.
Levi King dreht ihm das Gesicht zu, bewegt einmal ruckartig den Kopf. Tränen laufen ungehindert über seine Wangen aufs Hemd.
Solche Szenen habe ich seit Beginn meiner Polizeilaufbahn ein Dutzend Mal erlebt. Anfangs glaubte ich noch, es sei meine Unerfahrenheit, weshalb sie mir so zusetzen. Doch heute weiß ich, dass es nie einfacher wird. Man wird nicht tougher oder härter oder kälter, jedenfalls nicht in bedeutsamer Weise. Jedes Mal, wenn man den Kummer eines anderen Menschen miterlebt, hinterlässt das eine tiefe Wunde bei einem selbst.
»Wer konnte so etwas Furchtbares tun?«, fragt der amische Mann leise.
Niemand antwortet.
12.
Kapitel
Zwei Stunden später sind Tomasetti und ich auf dem Weg zu Stacey Karns, dem Fotografen und Gewinner des Ohio Photographic Arts Award. Wir haben kaum gesprochen, seit wir Bischof Hertzler und Levi King zu ihren Farmen
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