Toedliche Wut
ich gut kenne, weil ich schon viel zu oft damit in Berührung gekommen bin. Es riecht nach Verwesung, und der Tunnel hier ist bestimmt kein Tierfriedhof.
»Gottverdammt«, flüstere ich, leuchte mit der Taschenlampe einen Halbkreis und entdecke links von mir eine Einbuchtung, die Wand aus brüchigem Ziegelstein, an der gewölbten Decke ein splittriger Holzbalken. Als der Lichtstrahl auf die Leiche am Boden trifft, springe ich entsetzt einen Satz zurück. Es ist eine Frau. Ich sehe Jeans, ein verdrecktes weißes Tanktop, kaputte Ledersandalen. Der Oberkörper ist aufgedunsen, das Gesicht blau und fleckig, die Augen sind verflüssigt. Ein Arm ist nach oben gestreckt, die Hand eine schwarze Klaue. Leichenstarre, denke ich, doch dann fällt mein Blick auf die Kette, mit der sie an der Wand festgemacht ist.
»Scheiße. Scheiße .« Sofort denke ich, es ist Sadie, doch die Haare sind kürzer und die Farbe ist anders. Nicht Sadie, stelle ich erleichtert fest.
Ich trete näher zu der Leiche. Die Frau ist schon seit mehreren Tagen tot. Der Zustand ihres geschundenen Körpers lässt darauf schließen, dass es kein leichtes Sterben war. Ich leuchte auf die Fessel an ihrem Handgelenk, die Eisenschelle mit der schweren Kette dran sieht selbstgemacht aus. Sie muss sich heftig gewehrt haben, das getrocknete Blut an ihrem Arm stammt von der Schelle, die ihr ins Fleisch geschnitten hat. Andere Verletzungen – Stich- oder Schusswunden – sehe ich auf den ersten Blick nicht, kann sie aber wegen des vielen Schmutzes und der beginnenden Fäulnis des Körpers auch nicht ausschließen. Der Gestank ist nicht auszuhalten, er zwingt mich zum Gehen. Ich lasse sie ungern so zurück, doch kann ich nichts mehr für sie tun. Außer ihren Mörder finden.
Die Waffe im Anschlag, trete ich wieder in den Gang, sehe nach rechts. Das Licht vom Einstiegsloch ist kaum mehr zu sehen. Ich wüsste gern, ob der Deputy eingetroffen ist, klemme mir die Taschenlampe zwischen die Zähne, ziehe das Mobiltelefon vom Gürtelclip und tippe die Notrufnummer ein. Das Telefon piept, und auf dem Display erscheint Kein Netz .
»Verdammt!«, murmele ich und schiebe es zurück in den Clip.
Ich leuchte nach links und mache mich auf in die Dunkelheit. Schon bald überkommt mich die Vorstellung, von einem großen schwarzen Maul verschluckt zu werden, ich muss einen Anfall von Klaustrophobie unterdrücken und konzentriere mich auf die Umgebung, lausche auf Geräusche, Anzeichen von Leben – oder Gefahr.
Nach wenigen Metern stoße ich mit dem Fuß gegen etwas, leuchte blitzschnell nach unten – halb in der Erwartung, eine Ratte zu sehen –, und blicke auf einen Turnschuh. Ich gehe in die Hocke. Es ist ein Frauenschuh, der einst rosa Stoff ist verdreckt und voller Blut.
Ich richte mich auf, halte die Lampe seitlich vom Körper weg, und starre in die bodenlose Schwärze vor mir. Wenn sich dort jemand befindet, kann er mich sehen. Wenn er eine Waffe hat, gebe ich eine gute Zielscheibe ab. Und zum ersten Mal fühle ich mich ungeschützt, verwundbar. Ich überlege, die Lampe auszumachen und im Dunkeln weiterzugehen, aber das ist vielleicht noch gefährlicher, eine zweite Treppe könnte tiefer nach unten führen oder der Gang in einer Grube enden – oder es wartet jemand mit einem Nachtsichtgerät auf mich.
Ich leuchte mit der Taschenlampe über Wände und Decke. Wenn der Tunnel regelmäßig benutzt wird, gibt es vielleicht eine Lichtleitung oder Verlängerungsschnur. Und ich habe recht! Der Lichtstrahl fällt auf ein orangefarbenes Kabel, das mit Zaunkrampen oben an der Decke befestigt ist. Ich leuchte am Kabel entlang, das weiter geht als die Reichweite meiner Taschenlampe.
Ich lege einen Gang zu, schwenke die Taschenlampe hin und her und behalte den Verlauf des Kabels im Auge. Durch einen so schmalen Tunnel zu laufen hat etwas Surreales. Es ist wie ein Albtraum, in dem man glaubt, gleich das Ende zu erreichen und es doch niemals tut. Nach ein paar Metern stolpere ich über etwas und falle auf die Knie, rappele mich hoch und leuchte auf das Hindernis, eine in den Boden eingelassene Eisenbahnschwelle. Dabei bemerke ich rechts von mir eine Tür aus alten, morschen Brettern, deren Schloss aus Stahlhaken und Öse aber neu aussieht. Auf dem Boden davor ist ein Holzbalken eingelassen. Das Kabel an der Decke verschwindet in einem Winkel von fünfundvierzig Grad hinter der Tür.
Den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet, stehe ich reglos da und lausche angestrengt, höre
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