Toedliche Wut
das vor zwei Monaten verschwunden ist. »Du fehlst deiner Mamm und deinem Datt .«
Sie schlägt sich die Hand auf den Mund, als wolle sie ein Schluchzen unterdrücken. Tränen steigen in ihre Augen, doch sie gibt keinen Laut von sich.
»Wo sind die beiden Masts jetzt?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Sadie. »Sie waren schon eine ganze Zeit nicht mehr hier unten.«
»Haben sie Waffen?«
»Er hat ein Gewehr«, sagt Bonnie.
Beklemmung kriecht mir den Nacken hinauf wie eine Spinne mit kalten, dürren Beinen. Ich blicke zur Tür. »Ist sonst noch jemand hier unten?«
Die beiden Mädchen wechseln Blicke. »Leah«, sagt Bonnie.
Leah Stuckey . Das ist der Name, den Sheriff Goddard bei dem ersten Briefing erwähnt hat. Sechzehn Jahre alt, aus Hope Falls in Ohio. Wird seit einem Jahr vermisst. Ihre Eltern sind vor kurzem bei einem Buggy-Unfall ums Leben gekommen.
»Sie haben sie mitgenommen«, fügt Sadie jetzt hinzu.
Sofort fällt mir die Leiche nur wenige Meter von hier in der Nische ein. War das Leahs? »Wohin haben sie sie gebracht?«
»Das wissen wir nicht«, erwidert Sadie.
»Sie haben Leah gehasst«, sagt Bonnie. »Die waren echt gemein zu ihr, wegen ihrer großen Klappe und weil sie ständig geflucht hat. Sie wollten, dass sie rund um die Uhr die Bibel liest.« Sie gibt einen halb lachenden, halb weinenden Laut von sich. »Leah hat ihnen gesagt, sie sollen sich verpissen.« Bonnie schließt fest die Augen, als versuche sie, die Erinnerung abzuwehren. »Sie haben sie mit einem Stock zum Viehtreiben verprügelt.«
»Einmal haben sie sie mitgenommen, und als sie sie zurückbrachten, war sie richtig krank. Sie hat geblutet und so …« Sadie beißt sich auf die Lippe. »Unten.«
»Ich glaube, sie ist tot«, flüstert Bonnie. »Und uns bringen sie auch noch um.«
»Nein, das werden sie nicht«, sage ich bestimmt. »Ich hole euch hier raus, aber ihr müsst euch ruhig verhalten und leise sein.«
Sadie nickt. Bonnie zuckt mit dem Kopf, scheint nicht überzeugt und blickt in eine andere Richtung. Hoffentlich halten sie so lange durch, bis ich einen Plan habe.
Ich blicke auf die Eisenschelle um Sadies Handgelenk. »Gibt’s dafür einen Schlüssel?«
»Den hat der alte Mann in der Hosentasche.«
Dann also die Kette. »Helft mir was zu finden, um die Kette zu zertrümmern«, sage ich. »Einen dicken Stein oder einen Ziegel.«
Wir sehen uns in der Kammer um, was im düsteren Licht der nackten Glühbirne nicht einfach ist. Mein Blick fällt auf eine leere Wasserflasche, ein zerknülltes Papiertuch. Auf einem kleinen Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch mit der Schrift nach unten. Ich gehe hin und lese die Prägung auf dem Buchrücken: Es Nei Teshtament . Das Neue Testament.
»Hier gibt’s nichts«, sagt Bonnie.
»Schieß sie kaputt.« Sadie zeigt auf meine Pistole und hebt den Arm.
Ich erwidere nichts, zumal sie meine Antwort bestimmt nicht hören will. Die Kettenglieder sind zu dick, um sie mit einem Schuss kaputtzukriegen, und die Schelle ist zu nah am Handgelenk. Ich müsste nicht nur mehrere Male schießen, wobei ich auch Querschläger riskierte, und wahrscheinlich ginge mir auch die Munition aus, bevor die Kette durch wäre – und dann hätte ich nicht mal mehr eine brauchbare Waffe.
Ich hole mein Handy heraus. Ein einsamer Streifen ziert das Display. Trotzdem wähle ich die Notrufnummer, kriege wieder ein Kein Netz . Mit Tomasettis Nummer ist es das Gleiche.
Ich schiebe das Telefon zurück in den Gürtelclip. Die beiden Mädchen stehen kaum einen Meter von mir entfernt – mehr lassen ihre Ketten nicht zu – und sehen mich an, als wäre ich ihre Luft zum Atmen. »Ich muss Hilfe holen«, sage ich.
» Was ?« Bonnie starrt mich an, als wolle ich sie verraten. »Sie können uns doch nicht allein lassen!«
» Nein! «, stößt Sadie hervor. »Du kannst jetzt nicht gehen!«
»Draußen ist ein Deputy«, erkläre ich. »Verhaltet euch ruhig, und ich hole euch hier raus.«
Das Mädchen auf dem Boden stößt einen tierischen Laut aus, der von den Wänden widerhallt. Sadie wirbelt zu ihr herum, zischt: »Halt den Mund!«
»Und wenn sie uns holen, wenn du gerade weg bist?«, flüstert Bonnie.
»Sie sind nicht zu Hause«, sage ich mit fester Stimme. »Ich hab’s vorhin gecheckt.«
»Lass uns nicht allein hier unten!«, jammert sie.
»Die bringen uns um«, sagt Sadie.
Ich gehe zu ihr hin, umfasse ihre Schultern und schüttele sie sanft. »Wir kriegen das hin. Aber du musst stark
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